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Ottmar Gersters „Enoch Arden“ an der Wiener Kammeroper. Foto: Herwig Prammer
Ottmar Gersters „Enoch Arden“ an der Wiener Kammeroper. Foto: Herwig Prammer
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Ottmar Gersters Volksoper „Enoch Arden“ in der Wiener Kammeroper als Psychodrama

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Zum Ende von Roland Geyers Tätigkeit als Intendant des Theater an der Wien wurde an der zweiten Spielstätte des Hauses, der Wiener Kammeroper, Ottmar Gersters einst viel gespieltes Werk „Enoch Arden“ von 1936 auf die Bühne gebracht. Wolfgang Molkow berichtet.

Alfred Tennysons einstmals populäres viktorianisches Versepos „Enoch Arden“ regte deutsche Komponisten an. Die wehmütige Seemannsballade über das Dreiecksverhältnis einer Frau zwischen zwei gegensätzlichen Männern: dem stürmischen Sailor und dem häuslichen Windmüller geriet Richard Strauss zum pathetischen Melodram mit chromatischem Klaviergrollen fürs Meer und blumigem Melos für die Liebe.

Ein Strauss’ches Triolenmotiv wandert neben dem Wagnerschen „Holländer“-Quintenruf als Möwenschrei in die 1936 in Düsseldorf uraufgeführte Oper „Enoch Arden“ von Ottmar Gerster. Seinerzeit vielgespielt zählt die packende Heimkehrertragödie zu den Hauptwerken des unter dem Nationalsozialismus, dann in der DDR zum erfolgreichen Komponisten von Arbeiterchören, Sinfonien, Kammermusik und Opern avancierten Komponisten. In vier Bildern rollt Gerster im neuromantischen Chronikstil mal sinfonisch schicksalsdräuend, mal lyrisch-volkstümlich in Liedern und Duetten, mal derb tänzerisch die simple Handlung auf: der zum „letzten Mal“ ausfahrende Enoch, seine Unheil ahnende Annemarie, der Schiffbruch, die Hochzeit Annemaries mit dem Müller Clas und der finale Freitod des müden Heimkehrers.

Zur spannenden Umdeutung der Ballade ins psychologische Kammerspiel entschloss sich der scheidende Intendant des Theaters an der Wien Roland Geyer. Geyers Konzept reicht von der Robinsonade des Helden bis hin zum Isolationsschicksal in globaler Welt. Das dritte Bild: Enochs Strandung– von Gerster selber als monologischer Höhepunkt gesehen – rückt nun vom Beginn an ins traumatische Zentrum der Oper. Vergangenes Glück und künftiges Unglück finden in Enochs Kopf statt: die Ehe und das Kind; der Untergang der Brigg, seiner „zweiten Annemarie“; die Hochzeit der Frau mit dem Freund Clas und das resignative Ende. Wirklichkeit oder Halluzination?

Der szenische Blick auf die Bühne der Wiener Kammeroper richtet sich auf fernen Südseestrand mit Meereshorizont, auf dem der vereinsamte Protagonist sein Geschick beweint: der wohltimbrierte Bassbariton Markus Butter liefert hier mit kraftvoll-dramatischem Gesang und eindringlichem Spiel eine fesselnde Studie wachsender Verzweiflung. Die Dekonstruktion und Neu-Zusammensetzung funktioniert dramaturgisch; musikalisch geht sie nicht ganz auf, denn die Zerstückelung eines Monologs verliert naturgemäß an Spannung, vor allem dann, wenn ihm der explosive Schluss: Enochs Rettung fehlt. (Ebenso absent ist der folgende Chor, der den „ersten Auszug“ von Enochs Sohn als nunmehr zweitem Maat besingt.)

Die spärlich möblierte Vorderbühne indes hält des Helden Erinnerungen und Begegnungen im heimischen Fischerdorf fest. Valentina Petraeva Sopran gibt lyrisch verhalten mit schüchterner Mimik und vorsichtig ansetzenden Spitzentönen die ahnungsvolle Annemarie. Für den erkrankten Andrew Morstein als Klas sprang bei der besuchten dritten Vorstellung mimisch Timothy Connor ein, während am Bühnenrand Alexander Kaimbacher mit deutlicher Artikulation und heldischem Tenor einen fast überpointierten Müller ins Spiel brachte. Ivan Zinoviev als Schultheiß und der Arnold Schönberg-Chor fungieren mittels audiovisueller Zuspielung als teils atmosphärischer, teils medialer Slapstick-Dorfhintergrund.

Entsprechend der szenischen Umformung erfährt Gersters Partitur eine neue Mischfassung, gebildet aus einer für Kammerensemble reduzierten und einer zuvor eingespielten Originalbesetzung (Arrangement: Matthias Wegele). Walter Kobera leitet umsichtig und sensibel die zur jeweiligen Szene gestufte  Orchesterbegleitung. Regie, Bühne und Bildgestaltung liegen in den Händen des Video-Performers David Haneke. Den Sohn des Filmregisseurs Michael Haneke reizte an Geyers Projekt das – übrigens nicht neue – Zwischending einer Kinooper bei Filmlänge mit Vermischung theatraler und visionärer Ereignisse. Hanekes idyllische Bildsprache wartet mit Wellenschlag, Möwenflug und Caspar-David-Friedrich-Abendrot-Stimmung auf; irreales Dunkel liegt ihm weniger. Für die tiefenpsychologische Absicht des Opernexperiments fehlt eine die Konfiguration der drei Protagonisten Enoch-Annemarie-Klas genau auslotende Personenregie. Zudem müsste die zwischen vermeintlicher Realität und Halluzination irrlichternde Phantasie des Helden magisch beleuchtet, phantasmagorisch beschattet werden.

Einen existentialistischen Einblick gewährte diese verdienstvolle Produktion der Wiener Kammeroper wohl nicht, wohl aber vermittelte sie trotz Kürzung die immer noch erstaunlich lebendige Wirkung von Gersters Musik.

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