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Foto: Xiomara Bender
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Rollenspiele zwischen Realität, Startum und Societygetue – „Le Postillon de Lonjumeau“ in Erl

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Wenn eine Arie zum Wunschkonzertschlager avanciert, ist mitunter Vorsicht geboten. So war Adams opéra comique von 1836 aus dem Repertoire gefallen – auch wegen der Anforderung an den Tenor, mehrfach mit dem hohen D zu glänzen. Doch inzwischen entdeckt Frankreich seine Operntradition und stellt wiederholt fest: das ganze Werk ist nicht von gestern. Auch die Tiroler Festspiele in Erl bewiesen das jetzt.

Heutige Inhaltsangabe: Da gibt es im armen Liverpool diesen feschen Zusteller mit der tollen Stimme; Manager Epstein taucht auf und organisiert eine hollywoodeske Karriere bei Mogul Weinstein; die verlassene Braut macht derweil Karriere als Top-Model und Influencerin; nach Jahren begegnen sich Pop-Star und Model wieder – und fertig wäre die ewig moderne Rock-Oper!

Halt, jetzt beweisen die Tiroler Festspiele Erl: obige Story gibt es zwar im Gewand des 18.Jahrhunderts; damals war der Postillon allenthalben der „newsman“ schlechthin – und hatte auch ein Liebchen allenthalben. All das hat Adam als Liebes- und Gesellschaftsdrama im Theater-Kostüm des Ancien regime komponiert. Adams Postillon heiratet in Lonjumeau gerade Madeleine, singt ein tolles Lied bis zum hohen D – und wird vom durchreisenden Königlichen „Directeur de l’amusement musicale“ noch vor der Hochzeitsnacht an die Pariser Oper gelockt. Nach zehn Jahren ist er zum Startenor Saint-Phar avanciert. Madeleine hat reich geerbt und wird in Paris als Madame de Latour umschwärmt – sie will sich rächen, er liebt an ihr die erinnerte Madeleine. Die erneute Heirat wird als Bigamie mit Todesstrafe entlarvt, doch die beiderseits unerfüllte Liebe … mehr sei nicht verraten.

Adam hat eine mal frech fröhliche Musik für die Turbulenzen bis zur Bigamie, mal anspruchsvoll lyrische Partien für die sich bahnbrechenden echten Gefühle komponiert, viel, viel mehr als die berühmte Tenorarie – bis hin zur Klage der Chorsänger wegen Überbeanspruchung und andererseits einem Brüllchor der Bauern.

Für all das hat Ausstatter Kaspar Glarner ein mehrfach von „Bauern“ gedrehtes Theater-Bühnen-Haus gebaut: mit bespielter Vorder- und Hinterbühne sowie Seitengassen, vielfachen Vorhängen, Kristalllüstern und Kulissenimitaten; es führt wie nebenbei ganz wirbelig, spielerisch und amüsant das bis heute nachwirkende Theater des 18.Jahrhunderts vor. Und das Einverständnis mit Regisseur Hans Walter Richter war offensichtlich: in den schon dunklen Zuschauerraum tönte plötzlich „Chef-Gebrüll“ herein – und kurz drauf schritt „Sa Majesté“ Louis XV. im Zobelornat quer durchs Proszenium und wies rüde den unterwürfig eitlen Marquis de Crocy (treffend gespreizt: Steven LaBrie) an, gefälligst Ersatz für den liebestoll entflohenen Startenor der Opéra Royale aufzutreiben. Erst nach dieser „Zutat“ setzte Dirigent Erik Nielsen mit der Musik ein. Dem Kreislauf von Land-, Theater- und Pariser Adelsleben setzten Regie und Kostüm immer wieder kleine Blitzlichter des Amüsements auf, dabei Rollenspiele auf dem Theater wie im realen Leben als zeitlos entlarvend.

Herausragte dabei Gabriel Wanka, der als eckig-resolute Kammerzofe Rose erst Madeleine de Latour umtanzte, sich dann in einer hinreißend halbgrotesken Solonummer an den Marquis „ranschmiss“, zunächst kein Engagement bekam – aber im Finale mit einem Marquis-Kuss ganz anders engagiert wurde – Szenenapplaus - und: so gekonnt unaufdringlich lässt sich LGBT eben auch einbauen und inszenieren.

So geriet der ganze Abend zu einem reizvollen Zerr-Spiegelbild all unserer „Rollen“ – gesteigert durch vielfältige Musik, die in schönen Arien der Liebenden und fetzigen Finali alles trug und überhöhte – ja und gesungen wurde auch noch „standesgemäß“: schön bassbaritonal polternd von Joel Allison, der es vom Schmied zum Choristen und Solisten an der Oper bringt; von Monika Buczkowska, deren Lyrik als Madeleine wie „de Latour“ ansprach, deren weibliche Rache in der Höhe aber mehrfach zu hart und laut geriet; und das durchweg gute Restensemble überstrahlte Francesco Demuro mit den auch heute „extrem“ klingenden hohen Ds, weitaus schöner beeindruckend mit den hohen A-H-Cs. Ein rundum gelungener Festspielabend – trotz Kostüm des 18.Jahrhunderts auch über uns.

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