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Foto: © Ida Zenna | Torsten Rose (Betriebsdirektor der Musikalischen Komödie), Stefan Klingele (Musikdirektor und Chefdirigent der Musikalischen Komödie) & Cusch Jung (Chefregisseur der Musikalischen Komödie)
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Theaterdirektor Striese ist ein feiner Kerl: Die MuKo Leipzig glänzt mit DDR-Parademusical

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Beginn einer Wiedergutmachung nach sträflich langem Versäumnis? Am Freitagabend gab es im Westbad die Premiere von „Bretter, die die Welt bedeuten“. Der DDR-Operettenpapst Otto Schneidereit nannte Gerhard Kneifels Operetten-Musical eine „Preußische Posse“. Nur acht Monate nach der Uraufführung war die Premiere an der Musikalischen Komödie am 12. Dezember 1970. Jetzt gelangte das frühere Erfolgsstück wegen Sanierungsverzögerungen in der Ausweichstätte zur beglückenden Wiederentdeckung.

Ein denkwürdiger Abend in mehrfacher Hinsicht: Es war die allererste Produktion eines Werks des Heiteren Musiktheaters der DDR seit dem Mauerfall 1989, welches nicht von den Gattungsspitzenkomponisten Guido Masanetz und Gerd Natschinski stammte. Das wegen Pandemie reduzierte Premierenpublikum jubelte lange und laut. Der Gedanke an ein Werk von Gerhard Kneifel (1927-1992) lag nahe: „Bretter, die die Welt bedeuten“ kam schon acht Monate nach der Berliner Uraufführung am 24. April 1970 zur Leipziger Erstaufführung. Kneifel leistete mit „Die schwarze Perle“ am Theater Erfurt 1962 Geburtshilfe für die blutjunge Gattung des DDR-Musicals. Sein letztes Bühnenwerk „Aphrodite und der sexische Krieg“ (Uraufführung an der MuKo 1986) war als eines der letzten in der DDR entstandenen Musicals eine wichtige Brücke Richtung Wendezeit. Er und Wolfgang Tilgner griffen in diesem Antikriegsstück Ideen der DDR-Friedensbewegung auf und thematisierten im Opportunisten-Lied doppelzüngig Missstände der langsam fallenden Ost-Republik.

Kneifel also: Ursprünglich sollten die „Bretter“ im April 2021 im Venussaal der ‚neuen‘ MuKo zur Aufführung herauskommen. Dann vorverlegte man sie in den durch die Pandemie bedingten Dauerverschiebungen auf die Position von Lehárs „Juxheirat“ als Saisonstarter. Mit den Lockerungen des Spielbetriebs ergaben sich Freiräume für größere Besetzungen: Aus dem Pocket-Format wurden also doch ein mittelgroßes Orchester, eine fetzende Solisten-Schar und Platz für vier Tänzerinnen. Im Gegenzug verkleinerte sich der Anteil der Zwischentexte von Chefregisseur Cusch Jung, schließlich gab es sogar noch viel gekonnte Personenregie und echtes Theater. Keine leichte Arbeit für Daniel Hirschel! Seine Textbearbeitung sucht mit akribischer Detailversessenheit Hintergrund, Gehalt und Zwischenzeiliges. Natürlich in erster Linie den unvergänglichen Zitaten-Schatz aus dem diesem Musical-Opus zugrunde liegenden Schwank-Klassiker „Der Raub der Sabinerinnen“ der Brüder Schönthan. Und Hirschel bereicherte mit eigenen Zutaten, welche das spezifische DDR-‚Zwiedenken‘ als andere Ebene der Kommunikation zwischen Bühne und Publikum für die Generation ‚30 Jahre Wiedervereinigung‘ erlebbar machen sollte.

Diese glänzende Premiere war – durchaus im Sinne der DDR-Ästhetik – unterhaltsam, nachdenklich und mehr selbstkritisch als selbstreferenziell. Im Publikum saßen bewegt, amüsiert, aber auch skeptisch die MuKo-Protagonisten von früher: Monika Geppert (Intendantin i. R.), Erwin Leister (Chefregisseur i. R.), Roland Seiffarth (Chefdirigent i. R.) und die Nachkommen des Komponisten. Aber der Jubel kam vor allem vom (fast) unbefangenen Publikum. Immerhin ist der Zeitabstand zwischen der Uraufführung von „Bretter, die die Welt bedeuten“ und heute so groß wie zwischen Leo Falls „Die geschiedene Frau“ (1918) und der sexuellen Revolution. Der Zeitschub von 1875 ins Musical-Handlungsjahr 1905 rückt „Bretter, die die Welt bedeuten“ in die Nähe von Heinrich Manns durch Wolfgang Staudte in DDR-Zelluloid gebannten „Untertan“.

Gerhard Kneifel, Guido Masanetz und Gerd Natschinski sind unüberhörbar komponierende Ziehkinder von Nico Dostal und Fred Raymond, aber auch Halbgeschwister der Broadway-Stars Cole Porter und Frederick Loewe. Das Orchester der Musikalischen Komödie feiert und jubelt diesen Soundzwitter. Im Halbkreis sitzen die Solisten zu Beginn auf dem Podium und erwachen wie aus langem Dornröschen-Schlaf. Cusch Jungs erst recht umfänglicher Text tritt bald hinter den direkten Dialogen zurück. Die Befürchtung, dass mit dieser Introduktion der kreative Neubeginn nach einer negativ konnotierten DDR-Kulturschockstarre gemeint sein könnte, erfüllt sich nicht.

Alle suchen in diesem Stück das Andere – die Bürger den Geschmack von Freiheit und Urlaubsabenteuer, die (Lebens-)Künstler dagegen Sesshaftigkeit und abgesichertes Leben. Milko Milev stellt sich mit feinstem Pianissimo als „Herr Direktor“ Striese vor. Für Michael Raschle, der als Gymnasialdirektor Gollwitz Damenknie vor allem mit den Augen streichelt, wäre Prügelstrafe wohl das absolute No-Go. Im Zentrum der soziologisch korrekten Aufstellung befindet sich Andreas Rainer als Dr. Leo Neumeister und zeigt ganz hohe Affinität zu den ab 1933 gängigen Disziplinierungsmethoden. Großartig auch alle anderen: Nora Lentner (kunst- und kussgierige höhere Tochter Paula), Ensemble-Neuzugang Vikrant Subraminian (Sterneck, der schöngeistige Bonvivant mit Kontakt zu politischen Hinterzimmern), Theresa Maria Romes (als auf italienische Gräfin getrimmte Fleischertochter aus Teltow), Angela Mehling (Frau Striese) und Anne-Kathrin Fischer (Frau Prof. Gollwitz) als die großen Mütter ihrer Milieus sowie Anna Evans (Frau Dr. Neumeister). Über sie und Mirko Mahrs stil-authentische Choreographie möge es rote Rosen regnen in Frank Schmutzlers Bühne mit schwerem Purpurvorhang und Thespiskarren!

Völkische Ideen ante portas: Der Walkürenritt hagelt in Kneifels eigene Musik, wenn auch die fiktive Jugendsünden-Oper „Die Raub der Sabinerinnen“ des Gymnasialdirektors Gollwitz in ihrer Faktur eher wohl echter Siegfried Wagner als epigonaler Richard Wagner ist. Das Land, in dem die Zitronen blühen, suchen Damen in Franka Lüdtkes Roben lieber als mit Geist. Vor allem aber meint dieses Bühnen-Kaiserreich die DDR, wo touristische Ambitionen von Neustadt (Dosse) im westlichen Brandenburg nur bis zur Ostsee reichten, der Bildungsbürger-Kulttempel Bayreuth unerreichbar war und Reisen allenfalls nach Berlin oder schneller als erwünscht in den (Stasi-Gefängnisort) Bautzen führen konnten – letzteres die zeitgeschichtliche Zutat durch Daniel Hirschel.

Zugegeben: Einiges ist von charmanter Krudität, was die Autoren dieses Musical mit poetischem Pragmatismus ad absurdum führten – ohne Rücksicht auf ihre systemkonformen Lippenbekenntnisse zur Kleinbürger-Verhunzung und die verordnete sozialistische Parteilichkeit, aber mit für das DDR-Publikum verständlichen Ausdrucksmitteln. Unklar bleibt, wie das Theaterfamilien-Unternehmen Striese ein derart aufgedonnertes Bühnenfestspiel unter Mitwirkung leidenschaftlicher Laien stemmt.

Alles kann eine erste Wiederaufführung dieses Stückkosmos auf's erste nicht leisten. Im heute als Karnevalssound dechiffrierbaren Idiom Gerhard Kneifels stecken Können und Routine, aber auch Störfaktoren und Lackkratzer an Verschiedenem, was die DDR-Kulturvorderen ihren Werktätigen zur Bildung und politischen Prägung auftischen mussten. Es geht also um den Exorzismus des zu beschädigenden, aber mit feinsten dramaturgischen Gewürzmischungen aufgestylten Kleinbürgergeistes, der etwas pauschal der wilhelminischen Mittelschicht angedichtet wurde.

Das verspricht einen neuen und ausufernd großen Themen-Acker für die junge Generation der Musik-, Theater- und Kulturwissenschaften. Die Operetten- und Musical-Epoche zwischen Paul Burkhards „Feuerwerk“ (1950) und „Linie 1“ (1986) scheint seit Wolfgang Jansens Bemühungen in der Gesellschaft für unterhaltende Bühnenkunst (bis 2000) total versenkt und wie von der Bühnengegenwart ausradiert. Für diese gesamtdeutsche Lücke ist die durch Chefdirigent Stefan Klingele angestoßene Wiederaufführung eine Pionierleistung. Weitere Vorstellungen sind (in Orientierung an den geltenden Schutzbestimmungen) an potenziell verschiedenen Leipziger Spielstätten geplant. Hoffentlich folgt eine CD.


  • Musikalische Leitung: Christoph-Johannes Eichhorn - Inszenierung, Licht, Sprecher: Cusch Jung – Choreografie: Mirko Mahr – Bühne: Frank Schmutzler – Kostüme: Franka Lüdtke - Orchester und Ballett der Musikalischen Komödie Leipzig – Emanuel Striese, Theaterdirektor: Milko Milev - Prof. Martin Gollwitz: Michael Raschle – Paula: Nora Lentner – Emil Sterneck, Schauspieler: Vikrant Subramanian - Dr. Leo Neumeister: Andreas Rainer - Bella della Donna: Theresa Maria Romes - Martha Striese: Angela Mehling - Friederike Gollwitz: Anne-Kathrin Fischer – Marianne: Anna Evans
  • Musikalische Komödie im Westbad: Premiere Fr 18.09., 19:30 (besuchte Veranstaltung) und Sa 19.09., 19:00 – So 20.09., 15:00 – Sa 26.09., 19:00 – So 27.09., 15:00 (weitere Vorstellungen in Vorbereitung)

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