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Marysol Schalit, Ulrike Mayer (liegend). Foto: Jörg Landsberg
Marysol Schalit, Ulrike Mayer (liegend). Foto: Jörg Landsberg
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Tobende Emotionen – Händels „Alcina“ am Theater Bremen

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In Georg Friedrich Händels 1735 entstandenem „dramma per musica“ „Alcina“ geht die heidnische Zauberin Alcina unter: ihre abgelegten Liebhaber hat sie auf einer verlassenen Insel in Tiere, Pflanzen oder Steine verwandelt und nun hat sie sich in ihr neuestes Opfer Ruggiero wirklich verliebt. Der Regisseur Michael Talke macht in seiner viel bejubelten neuen Inszenierung am Theater Bremen ein anderes Fass auf. Welches, erklärt unsere Kritikerin Ute Schalz-Laurenze.

Nachdem Ruggiero dreimal seine ehemalige Geliebte Alcina reichlich brutal in den Abgrund gestoßen hat und sich für sein altes Leben mit seiner Braut Bradamante entscheidet, kommt sie noch einmal wieder mit dem Blumenstrauß, den anfangs Ruggiero im Arm hat. Sie legt mit den Blumen eine lockende Spur, der ausgerechnet Bradamante folgt, die gerade ihre Hochzeit mit Ruggiero feiert. Passt alles nicht? Richtig. Steht auch so nicht bei Händel. Ist aber eine bestechende Konsequenz aus dem Inszenierungsansatz: die Welt der Vernunft steht gegen die Welt des Gefühls, der Sehnsucht nach ihr, die wir immer behalten werden. Und das ist zeitlos aktuell.

Es ist vor allem der Abend von Marysol Schalit, die die männerverschlingende Alcina in makellosem Gesang und den Prozess ihres Untergangs erschütternd zeigt, den Untergang einer liebenden und verwundbaren Frau. Es ist auch der Abend von Ulrike Mayer als Ruggiero, die es schafft, mit ungemein vielen sängerischen Facetten – vor allem auch traumschön „Verdi Prati“ – ein berührendes Porträt seiner Verführung und seiner Reue zu zeigen. Mit ihren Arien durchläuft sie Arroganz, Zweifel, Enttäuschung, wehmütige Erinnerung und fragwürdige Selbstbeherrschung. Auch die anderen Rollen können da gut standhalten: Nerita Pokvytytè als überlebenslustige Morgana, Luis Olivares Sandoval als beleidigter Oronte und Stephan Clark als aufpassender Melisso. Auch Candida Guida als biedere Bradamante ergänzte das Ensemble glänzend.

In sehr einfachen, aber deutlichen Bühnenbildern (Thilo Reuther) wird Talkes Konzept lebendig: Blumen und prähistorische Tiere zeigen die permanente Anwesenheit der verzauberten Männer, ein heruntergefahrenes Einfamilienhaus zeigt die vielleicht auch spießige Vernunftebene des Ruggiero. Ebenso tragen die zeitlosen Schlapperkostüme und bürgerlichen Anzüge aus der Welt des Ruggiero von Regine Standfuss zur Klarheit der Konzeption wunderbar bei. Dazwischen lässt Talke die Emotionen der Musik regelrecht toben, die in der Interpretation der Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Marco Comin mit ergreifender Intensität verführerisch schön rüberkam: Klangfarben, Rhythmen, Solostellen. Überzeugend vor allem auch die Präzision des Zusammenspiels mit den SängerInnen, die einen endlosen Reichtum von Affekten und Emotionen präsentieren dürfen: Zärtlichkeit, Zorn, Wut, Sehnsucht, Rache, Angst, … da zeigt Händel uns unser ganzes Leben mit faszinierend psychologischer Genauigkeit. Und damit ist Talke ein wunderbarer Coup gelungen, die krause Geschichte aus ihrer unwirklichen Fantastik herauszuholen und den realen Verfall einer alternden Frau in ihrer ganzen Tragik zu zeigen – ohne auf ironische Brechungen zu verzichten, die uns oft ein Augenzwinkern erlauben. Ein schöner, ein großer Abend.

  • Die nächsten Aufführungen: 15. und 23.November, 6. und 15. Dezember, 9. und 19. Januar 2020 und 5. Februar.

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