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Kollektive Improvisationen: The International Turntable Orchestra. Foto: Stefan Pieper
Kollektive Improvisationen: The International Turntable Orchestra. Foto: Stefan Pieper
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Klangkünstler des International Turntable Orchestras begegneten sich in Berlin analog

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Feinfühlig platzieren die Hände von Maria Chavez die Scherben alter Schallplatten auf dem rotierenden Plattenteller. Jedesmal kracht dies, als würden kollossale Stahlplatten niederfallen – ein elektroakustischer Tonabnehmer ist eben hochsensibel! Unkontrollierte Kollisionen des Materials mit der Nadel lassen den Boden erzittern; nach einer halben Umdrehung nimmt sie die Scherben wieder runter, wirft sie wieder drauf. Es knarzt und knackt, lässt in ständiger Wiederholung eine empfindsame Struktur entstehen. Einer von vielen, eigenwillig poetischen Momenten auf der Suche nach akustischen Strukturen, welche die in Peru geborene New Yorkerin mit ihrem Plattenspieler betreibt.

Die Künstlerin, die in der Downtown-Szene zuhause ist, gehörte zum International Turntable Orchestra; dieses huldigte in Berlin vier Tage lang dem Plattenspieler, der in der Unterhaltungsindustrie längst nicht mehr vorkommt, dort sogar teilweise garnicht mehr bekannt ist – aber dafür umso mehr als Musikinstrument, Klangerzeuger und Symbolträger in immer weiter sich zu erneuernden Facetten weiterlebt. Das Festival bezog sich dabei auf die künstlerische Spielart des turntablism, also allem, was sich noch weit jenseits von Hiphop-Scratching und DJ-Kultur öffnet. Viele künstlerische Intentionen und Blickwinkel fokussieren sich hier auf dieses so archaisch anmutende Gerät mit seinem rotierenden Teller und dem elektromagnetischen Abtaster. Und nicht nur wenn Maria Chavaz kleine Steinchen über die Slipmat hüpfen lässt, wird sogar das Vinyl zuweilen ganz ignoriert.

Hinter dem Unterfangen, in Berlin all die künstlerischen Ansätze rund um eine experimentelle Turntable-Kunst zusammenzuführen, steht als Kurator der Berliner Musiker und Klangkünstler Ignaz Schick. Wie ihm, ist es vielen Festival-Künstlern ergangen: War er mit einer frühen Begeisterung für Freejazz einst in expressiven Bereichen von Musik zuhause, so zog es ihn später in unmittelbarere Richtungen, wenn es um den direkten Umgang mit Material geht. Freie Elektronik und Noise wurden als Konsequenz zu den favorisierten Genres. Vieles schöpft hier aus der Aura einer geräuschemanzipierenden "music concrete" und auch die Ideen etwa von John Cage scheinen nicht fern.

Für Ignaz Schick und ein gutes Dutzend mehr in Berlin anwesender international hochprofilierter Künstlerinnen und Künstler wird der Plattenspieler zum idealen Medium, um Reduktionen auf das Wesentliche faktisch und haptisch zu perfektionieren. Vor allem wegen seiner spielerischen und manipulativen Potenziale eröffnet sich hier live auf der Bühne ein Ausweg zur latenten Versteinerung, die der unbeweglich agierende Laptop-Künstler nicht selten assoziieren lässt. Also erzeugte das Umfeld in der Akademie der Künste viel funktionale Behaglichkeit, die überaus produktiv machte. Scherben von alten Platten lagen auf dem Fußboden im Floyer verstreut. Turntablisten befinden sich ja auch an einer entscheidenden Stelle, wenn es um Dekonstruktion geht...

Vor allem die nachmittäglichen Soloaufftritte zeigten, dass die eingesetzten Platten für die vielen Wege ihrer akustischer Bearbeitung keineswegs zufällig sind: Claus von Bebber favorisiert vor allem Freejazzplatten für gezielte Assoziationsmomente. Zunächst stellte er die Störgeräusche in den Vordergrund und ließ verschiedene Knackgeräusche zu Loop-Patterns gerinnen. Deren Phasenverschiebungen atmeten den Geist der Minimal Music. Und es hat etwas revoluzzerhaftes, dass Bebber - ebenso wie sein Liverpooler Kollege Philip Jeck - dem unverwüstlichen Technics 1210-DJ-Plattenspieler abschwört, dafür auf uralte Flohmarkt-Plattenspieler zurückgreift. Bebber türmte mit so etwas kollossale Klangflächen-Hörfilme auf.

Ganz anders vollzog etwa der Australier Martin Ng die Atomisierung von Musikzitaten. Ein Mikrofragment aus klassischer asiatischer Musik verlor sich im Szenario aus Schlagimpulsen – schließlich gab es sogar Fausthieben auf den Plattenteller. Ein Beleg für die Unverwüstlichkeit des Technics 1210, den Ng sinnvollerweise nutzt. Andere, vor allem der Franzose Arnaud Riviere mit seiner kurzweiligen Krawallshow, bewegten sich weit weg vom Musikalischen. Hier wird "Turntablism" zur Performance.

Klug durchdacht gliederte sich das Berliner Programm in Soloperformance und Ensemble-Begegnungen. Heiterkeit erzeugte, als Joke Lanz und der Wiener Aktionskünstler "Dieb 13" eine Kanonade schweizerische Schimpfwörter rückwärts laufen ließen – Turntables als Werkzeug für neue dadaistische Lautpoesie! Schließlich kommunizierten mehr als ein Dutzend Turntable- Artisten in einem großen Orchester. "The International Turntable Orchestra" (T.I.T.O.) war dank der kommunikativen Rahmenbedingungen in Berlin Wirklichkeit geworden.

Vielfältigst begegneten sich kollektive Improvisationen und formal konzipierte Abläufe, spielten sich die Teilnehmer ihre mannigfaltigen Geräuschloops, Texturen aus Knackimpulsen und eine bunte Vielfalt an Klangfarbtupfern und Musikzitate wie Bälle zu. Wenn Ignaz Schick seinen Turntable mit Schlagzeugbecken physisch konfrotierte, strotzte dies vor abenteuerlustigem Temperament. Der Brite Philip Jeck zeigt sich als sphärischer Klangpoet. Die New Yorkerin Marina Rosenfeld präsentierte ein ganzes Streichquartett als Neuarrangierung für Plattenspieler.

Dass all dies möglich wurde und dabei niemals Digitales herhalten musste, dafür sorgte der Einsatz einer monumentalen Vinylschneidemaschine. Diese hatten Flo Kaufmann und Jan Zimmermann im Foyer aufgebaut, um jede gelieferte akustische Idee per Direktschnitt in Vinyl zu verewigen. Schließlich wurde sogar live auf dieser Maschine musiziert: Spröde Geräusche formten einen unablässigen Puls. Sie wurden sofort aufgenommen und im nächsten Moment direkt auf die laufende Platte geschnitten - akustisch zog dies in meditative verdichtete Trance-Zustände hinein. Analog geht sowas immer noch am besten! 

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