Der Zugang „zu einer poetischen Zeit“ darf Umwege nicht scheuen. Die neue Bonner Wallfahrt zu „Robert S.“ führt durch einen in sanften Herbstabenddunst getauchten Hof. Vorbei am milden Licht einer Bierbude (ja, Schumann, der „Biersanguiniker“, liebte den Gerstensaft …). Dann weiter: Innerhalb der alten Beueler Malerhalle geht es durch ein Kaminzimmer und eine Klapptür.
In dem mit Fundusbeständen vollgepfropften Saal wartet, umgürtet von einem Duschvorhang, eine Kleinkunstbühne für die wild ins 21. Jahrhunderts herübergerückten Figuren – Clara S. (Hanna Dóra Sturludóttier), Vater Wieck (Andrew Zimmermann), Florestan (Nicholas Isherwood) und Eusebius (Roland Schneider) sowie deren Begleitpuppen. Auf ein Podium seitwärts verwiesen wurde das von Wolfgang Lischke geleitete dreizehnköpfige Kammerensemble. Es rekrutiert sich aus Mitgliedern des Beethoven-Orchesters Bonn und wirkt phasenweise unterfordert, wenn sich das theatrale Geschehen in anderen Ecken des Raums mit intensiver Ausführlichkeit zwischen die TheatergängerInnen schiebt. Doch wenn die Musiker in Aktion treten, dann müssen sie viel Filigranes ziselieren.
Das dem Projekt zugrunde liegende Libretto des Musikwissenschaftlers und Dramaturgen Klaus Angermann ist nicht ernsthaft getrübt von Kenntnis der Schaffensbiographie des Mannes, um den es hier gehen soll. Es nippt an Klischees wie dem, daß Robert S. seine „Versuche mit Symphonien und anderen Gattungen … fast katalogmäßig abgearbeitet“ habe. Selbst wenn Schumann – was nicht der Fall ist – dies getan hätte, ergäbe sich daraus keineswegs, daß er „nie eine umfassende Gesamtansicht der Welt anstrebte“. Im Gegenteil: Thomas Mann z.B. bemerkte in seinem „Doktor Faustus“, Schumann habe mehr als jeder andere Musiker vor ihm auf „Weltanschauung“ abgehoben und beigetragen!
Unbeschadet der offensichtlichen handwerklichen Mängel wurde Angermanns (womöglich von niemand rechtzeitig kritisch gegengelesener) Text dreifach gefördert. Der Erguß veranlaßte fünf KomponistInnen, ihre jeweilige neue Kammermusik mehr oder minder subkutan mit Lebens- und Schaffens-Situationen des Journalisten und Komponisten Schumann zu assoziieren – Zwickau, Leipzig, Dresden, Düsseldorf und Bonn-Endenich. Resultat: „5 Verhinderungen über Kunst nachzudenken“. In den von Annette Schlünz und Peter Gilbert beigesteuerten Abschnitten hallen jeweils kurz vor Ende Klavierbegleitfiguren aus Schumann-Liedern nach. Die Herstellungsmuster der durch ganz unterschiedliche Temperamente geprägten Beiträge von Karola Obermüller, Georg Katzer und Sergej Newski weisen vordergründig keine erkennbaren Affinitäten zum Tonsatz in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, schienen aber bereits am Tag der Uraufführung Edelrost angesetzt zu haben. Newski mag sich auf Aktionskunstmodelle der 1960er und 70er Jahre beziehen, wenn er ein elektrisches Brotmesser, ein Laubgebläse und eine Motorsäge zum Einsatz bringt. Aber warum nur drohen diese nützlichen Instrumente bloß akustisch?
Die Fächer in den hohen Metallregalen entlang den Wänden des Alten Bonner Malersaals füllte der Ausstatter Christoph Ernst mit Geschirr und Küchenmaschinen verflossener Jahrzehnte, mit Körben und Kannen, Puppen und Plüschtieren. Die Zuschauer, für die er von Flickenteppichen bedeckte Sitzpodien bereitstellte, sollen und müssen sich von der überbordenden Fülle des Hausrats bedrängt fühlen. Sie sehen und spüren womöglich sogar physisch, wie der historische Raum zwischen ihnen und dem in der Endenicher Psychiatrie verstorbenen Komponisten S. sich mit „Kulturgut“ und Zivilisationsschrott füllte.
Die Inszenierung von Michael von zur Mühlen verweigerte anschmiegsame szenische Begleitung der in Bezug auf Schumann so denkwürdig gedankenlosen neuen Kammermusik, die mit ihrem hoch subventionierten Klingbim erratisch in der ihr zugeordneten Ecke des Theaterraums zu verharren schien. Der Regisseur blieb gegenüber den von den KomponistInnen angedienten Inwendigkeiten vorsätzlich abstinent – er kontrapunktierte sie mit einer Annäherung an aktuellen realen Wahnsinn. Mit Julian Blaue (lt. Programmheft „Essayist und Spießbürger“) bot er einen Selbstdarsteller auf, der mehr oder minder wilden Assoziationen aus sich heraus und in den zugerümpelten Saal schleuderte – Sentenzen zu der von ihm hörbar gehaßten „Kreativwirtschaft“ und deren „Hampelmännern“, zur Theaterklause im Bonner Stadtzentrum und zum „Scheiß Schmetterling Robert fucking S.“, zu Google und zum Suizid durch Sprünge in den Rhein.
Blaues ziemlich blauäugige Textbrocken wurden „während der Proben und im Laufe der Aufführung“ zu Papier und dann auch ungefiltert gleich zu Gehör gebracht: die (Auto-)Aggressionen dieses Stegreif-Schwadronierers konnten als Annäherung an den Schumannschen Wahnsinn genommen werden. Sie waren geeignet, den Atem stocken lassen zu lassen oder helles Gelächter auszulösen und erwiesen sich als maßlos. Auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Wucherungen. Aber wie könnte sich eine Gedenkveranstaltung im Namen und Auftrag von „experimentellem Musiktheater“ Robert Schumann heute nähern, wenn nicht ausdrücklich auch das Maßlose, Exterritoriale, Exorbitante versucht würde? Das Unzulängliche und Unzugängliche, hier wird’s Ereignis – eben, dank Michael von zur Mühlen, eine „Verhinderung über Kunst nicht nachzudenken“. Ein tief gespaltener Abend mit Theater und Musik – auf kaputt-nachdrückliche Weise poetisch.