Die Schönheit der Geschwindigkeit proklamierte der Futurist Tomaso Marinetti in einem Manifest aus dem Jahr 1908. Ein begeisterter Fortschrittsglaube führte zur Ästhetisierung des rasanten technischen Fortschritts. Dies fand auch musikalisch seinen eindrücklichen Niederschlag: Komponisten wie George Antheil, Alexander Mussolo und später der Amerikaner Conlon Nancarrow verliehen dem Lärm von Turbinen und Motoren, von vertrackten mechanischen Abläufen einen musikalischen Widerhall.
Automatische Klaviere wie das Phonola erlaubten den Komponisten gar, bei der Verwirklichung ihrer Ideen das menschliche Vermögen im Darstellen musikalischer Geschwindigkeit gänzlich hinter sich zu lassen…
Ein interessierter Kreis lauscht im Münsteraner Franz Hitze Haus den historischen und literarischen Ausführungen zu diesem Thema. Und es darf eingetaucht werden in die faszinierenden pianistischen Kostroben dieses Repertoires, phasenweise auch mittels eines live gespielten Phonolas. Vorbildlicher hätte jener Abend zu Beginn des Münsteraner Klangzeit-Festivals nicht konzipiert sein können, drückt sich doch hier das verfolgte Ideal dieser Konzertreihe aus, bei der vor allem die genreübergreifenden Vermittlung groß geschrieben wird.
„Stadtklänge“ – das sollte der aktuelle thematische rote Faden für sein. Die Wahl dieses Mottos war noch in den Zeitraum gefallen, als Münster als Kulturhauptstadt-Bewerberin im Rennen lag. Aber davon abgesehen zollte das „Stadt“-Motto der vorhandenen Kräftebündelung in Sachen fortschrittlicher Musik einmal mehr Respekt. Und da erwiesen sich die Gesellschaft für Neue Musik und das Stadttheater als harmonisch aufeinander abgestimmte Partner. Die wohl publikumswirksamste Großtat dieser Festivalausgabe war eine Neuinszenierung von Alban Bergs Oper „Lulu“- und zwar in komplettierter, dreiaktiger Lang-Fassung. Mit Henrike Jacob war die Hauptrolle fabelhaft besetzt. Ihr Sopran stürmte sinnlich und spannungsgeladen in höchste Höhen empor, strotzte selbstbewusst und höchst beweglich diesem ganzen Orchesterapparat mit dessen ruhelos aufgetürmter Zwölftönigkeit. Gänsehaut-Effekte, Begeisterung! Aber ein zwiespältiger Eindruck, was die Inszenierung selbst angeht, wo sich Kostümwahl und Bühnenbild doch zuweilen in monströser Buntheit vergaloppierten…
Das „Kerngeschäft“ von Klangzeit ist die Präsentation von musikalischer Gegenwartsmusik. Und da sorgte eine bemerkenswerte Uraufführung für den unmittelbarsten Bezug auf das Festival-Motto. Helmut Oehring hat seine jüngste Orchesterkomposition direkt dem urbanen Gepräge der Stadt Münster abgelauscht. Das Orchesterstück „Mucity“ wiederspiegelt den atmosphärischen Rhythmus der altehrwürdig-lebendigen westfälischen Stadt. Und das Orchester der Städtischen Bühnen hörte sich hervorragend in die Partitur hinein. Ultrafeine, ätherische Klangflächen näherten sich jener nächtlichen Stille an, wenn in der Westfalenmetropole die Bürgersteige hochgeklappt werden. Doch auch das stets wiederkehrende, farbenfrohe Leben wiederspiegelte sich - in ruhelos-quirligem Flechtwerk aus rhythmischen Impulsen, später gar jazzigen, manchmal rockigen Passagen.
Für abseitige Geräuschwelten ist der Musikclub Cuba eine Kultstätte in Münster: Hier vollführten der japanische Experimentalgitarrist Keiji Haino und zwei finnische Elektronik-Soundtüftler eine verschlungene Dramaturgie aus Drumcomputer-Rhythmen und deren narkotisierender Überlagerung durch psychedelische Impressionen aus Hainos E-Gitarre.
Künstler wie Melvyn Pore und Alvin Curran suchten nach Schnittstellen zwischen handwerklich- virtuoser Instrumentenbeherrschung und spontan eingesetzter Live-Elektronik. Das kurzweilig-musikantische Tubaspiel von Melvyn Poore lebte in virtuellen Echo-Schleifen weiter. Und Alvin Curran zog ein riesiges Universum aus Geräusch-Samples heran, welche sämtlichen Keyboard-Tasten zugeordnet waren. Geräuschsamples, Musikfetzen, absurde Stimmenfetzen, schließlich die berühmte Ursonate von Kurt Schwitters als legendäres Manifest zur fröhlichen Destruktion umfasste dieser erstaunliche Klaviatur der Anspielungen.
Nach allen Um- und Abwegen schloss sich der programmatische Kreis schließlich wieder zur zeitgenössischen Kammermusik im reinen Sinne. Und da bewies das Berliner Modern Art Sextett einmal mehr seinen Rang als eines der aktuellen Referenzensembles. In Werken von Georg Katzer, Alexander Filonenko oder Sidney Corbett agierten die Berliner extrem nuancenreich zwischen Streicherklang, Bläserstimmen und Klavierspiel, machten vielgestaltiges kompositorisches Schaffen von heute sinnlich erfahrbar.