Zum Debut des Dortmunder „Domicils“, am 14. März 1969, wählte man Dixieland-Musik, damit auch etwaige „krawattentragende“ Besucher aus der Lokalpolitik nicht verstört würden – aber schon wenige Tage erfolgte das Bekenntnis zur ästhetischen Revolte, als der Freejazzer Peter Brötzmann im Jazzkeller an der Dortmunder Leopoldstraße in die Hörner stieß. Dies war ein würdiger Startschuss für vier Jahrzehnte kontinuierliche Jazzhistorie im Ruhrgebiet.
Die wichtigste Neuerung erfuhr der Club erst im Jahre 2005 – da nämlich wurde die Spielstätte aus ihrem Kellerdasein „befreit“ und zog ins Hansa-Theater, einen ehemaligen Filmpalast um. Seit dem ist das öffentlich geförderte Domicil weit mehr als „nur ein Jazzclub“ – es ist auch Partylocation und beliebter Treffpunkt mitten in der City – kurzum ein „Konzerthaus für das 21. Jahrhundert“, wie es der Geschäftsführer und künstlerischer Leiter Waldo Riedl charakterisiert.
Wer hierhin kommt, will sich gern auf Neues einlassen. Das bewies der altersmäßig bunt gemischte Zulauf zur großen Geburtstags-Jazznacht. Das Geschehen auf der Bühne stand einmal mehr und ganz unterschiedlich für das ambitionierte künstlerische Konzept in Dortmund.
Zunächst lässt eine junge Band aus der Schweiz mächtig viel frischen Wind aufkommen, wenn es um hellhörige aufgefasste improvisierte Musik geht – aber dafür ist die Schweizer Szene ja ohnehin bestens bekannt: Ins Klavierspiel des Schweizers Colin Vallon fließt so viel aus dem weiten, grenzensprengenden Musikkosmos von heute ein. Die Live-Dramaturgie seiner Band ist großes Kino, wenn es um einen intensiven meditativen Fluss geht. Vallon spielt keine Note zuviel – oft entlockt er seinen Tasten betont minimalistische Texturen, lässt zuweilen arabische Tonskalen einfließen oder verfremdet den Klang seines Flügels durch bewusstes „Verstimmen“ einzelner Saiten. Dazu baut die Rhythmusgruppe mächtigen Druck auf, aber auch der betont in jedem Moment das atmosphärische. Immer dann wird es mittendrin entwaffnend konkret, mit Zitaten von Radiohead oder dem Cranberries-Stück „Zombie“. Volltreffer!
Zwei überragende europäische Improvisatoren bündeln dann ihre ganze musikalische Abenteuerlust im Duo-Spiel, und dabei explodiert die Spiellust geradezu! Der angekündigte Renaud Garcia Fons musste krankheitsbedingt seine Tour absagen, aber den katalanischen Bass-Virtuosen vertritt ein anderer Saitenzauber – auf dem Violoncello!
Vincent Courtois reißt auf seinem Instrument scheinbar alle spieltechnischen Grenzen nieder. In ekstatischen Flageolett-Soli, pumpenden Bass-Ostinati und bizarrer Klangmagie formuliert er ein Manifest gegen das übliche Nischendasein dieses Instrumentes in der freien Musik, steht damit einem Louis Sclavis zur Seite, der sich mal wieder in traumhafter Bestform zeigt, wie er seine coltranesken Tonkaskaden himmelwärts schraubt, manchmal fast 20 Sekunden ohne Luft zu holen, denn seine Zirkularatmungs-Technik ist extrem. Ein Traum-Duo, das Freejazz-Fetzen, Zitate aus imaginärer Folklore, Zwölftonskalen und hypnotische Ostinato-Parts miteinander reagieren lässt.
Zum krönenden Abschluss feiern legendäre Jazzgrößen aus den USA zusammen mit ihrem Publikum den Moment - bzw. diese ausgedehnte, live im Radio übertragene Sternstunde zum 40. Geburtstags des Domicil. Lew Soloff bringt gleich mehrere Trompeten und auch ebenso viele Brillen mit auf die Bühne. Auf Anhieb treibt er charmant kommunizierend und mit einer erfrischend kreativen Band seine von Neobop-Stilistike getränkte Mixtur auf einen zuverlässigen Siedepunkt. Soloff, 65 Jahre jung, artikuliert auf seinem Horn glasklar. Von messerscharfer Präsenz sind seine Phrasen, zuweilen abgehackt und atemlos wirft er die Themen in den Raum als Sprungbrett für unerschöpfliche, rasante Interaktionen. So würde Bebop klingen, wenn er ihn gerade hier erfunden hätte!