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Wie geht es nach Corona weiter im Musikbetrieb und in der Ausbildung? Foto: HfM Hanns Eisler/Janine Escher
Wie geht es nach Corona weiter im Musikbetrieb und in der Ausbildung? Foto: HfM Hanns Eisler/Janine Escher
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Die beschwiegene Zukunft

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Musikhochschulen brauchen langfristige Visionen und Utopien · Von Bernhard König
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1961 war der Komponist György Ligeti eingeladen, vor einem illustren Publikum aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik einen Vortrag über die „Zukunft der Musik“ zu halten. Ligeti trat ans Rednerpult und schwieg zehn Minuten lang. Seinen provokativen Auftritt kommentierte er später mit den Worten, er habe „keine Unwahrheiten“ sagen wollen. John Cage wiederum hatte bereits 1937 einen bemerkenswerten Text zum gleichen Thema geschrieben. Seine Vision: Eine komplett synthetisch erzeugte Musik, die in eigens eingerichteten Zentren für experimentelle Musik entsteht und aus allem Klingenden schöpfen kann.

Musikhochschulen haben den Anspruch, den musikalischen Nachwuchs auszubilden. Grundlage einer solchen Ausbildung sollte also eine zumindest vage Idee von Zukunft sein. Versucht man sich ein Bild davon zu machen, welches Zukunftsverständnis den Curricula der Musikhochschulen zugrundeliegt, dann stößt man auf viel Cage und noch mehr Ligeti. Auf der technologischen Seite gibt es mittlerweile ein reichhaltiges Angebot an teils traditionsreichen, teils neuen Studiengängen. So kann man in Köln und Freiburg elektronische Komposition, in Detmold Audiovisual Arts Computing und in Essen Integrative Komposition studieren. Nürnberg verfügt über ein digitales „Zentrum für Kreativität und Innovation“, in Hamburg wird an neuen Soundsystemen und Smartphone-Apps geforscht, in Lübeck entsteht ein Lehrstuhl für Digitale Kreation und in München ein „Innovationslabor und Gründungszentrum“ für „disruptive Geschäftsideen, die unser Leben vielfältiger, spannender und schöner machen“.

Auf der anderen Seite: Schweigen. In den traditionellen musikalischen Ausbildungsgängen sucht man vergebens nach konkreten Aussagen darüber, wohin die Reise gehen soll, welche Zukunft wir uns wünschen, auf welche langfristigen Visionen und Utopien wir hinarbeiten. Stattdessen werden große Teile unseres musikalischen Nachwuchses für das unwahrscheinlichste aller Zukunftsszenarien ausgebildet: Für eine märchenhafte Zukunft voller umfänglich subventionierter Opernhäuser, Orchester und Musikschulen und mit einem nie versiegenden Bedarf an künstlerischer Exzellenz. Versucht man, das Zukunftsverständnis der Musikhochschulen auf eine möglichst knappe Formel zu bringen, dann lautet sie ungefähr folgendermaßen. Erstens: Die Zukunft wird digital sein. Zweitens: Ansonsten wird sich nichts ändern. Es soll sich auch nichts ändern. Alles soll so bleiben, wie es vor Corona war.

Auf dem Weg ins Anthropozän

Die klimatischen und ökologischen Grundlagen unseres Daseins (und damit auch unseres Musizierens) verändern sich gegenwärtig dramatisch. Alle wissenschaftlichen Befunde deuten darauf hin, dass wir uns auf ein neues Erdzeitalter und auf planetare Bedingungen zubewegen, unter denen Menschen bisher noch nie exis­tieren mussten. In vielen Fachdisziplinen wird deshalb forschend in die Zukunft geschaut. Dabei geht es in der Regel um zwei scheinbar entgegengesetzte Fragestellungen, die aber im Sinne eines vorausschauenden Handelns gleichermaßen wichtig sind. Die erste Frage: Wie lassen sich die Erd­erwärmung und das Artensterben bremsen? Wie kann verhindert werden, dass immer mehr Ökosysteme kollabieren und wir in einen irreversiblen Teufelskreis globaler Erhitzung geraten? Die zweite Frage: Wie können wir uns an die kommenden klimatischen Veränderungen anpassen (die uns ja in etwas milderer Form auch dann bevorstehen, wenn es gelingen sollte, die Pariser Klimaziele einzuhalten)? Dieses Nebeneinander von Klimaschutz und Klimaanpassung fächert sich in vielerlei Fragestellungen auf, die in entsprechenden Studiengängen beforscht, gelehrt und ausdifferenziert werden. Wie können wir verhindern, dass Inseln und Küs­tenstädte überflutet werden – aber auch: Wie können wir uns darauf einstellen, dass genau dies geschehen wird? Wie kann die Landwirtschaft so umgestellt werden, dass mehr CO2 im Boden gebunden und das Insektensterben beendet wird – aber auch: Wie kann sie sich darauf einstellen, dass in unseren Breitengraden subtropische Verhältnisse herrschen werden? Wie kann eine Städteplanung aussehen, die dabei hilft, Flächenversiegelung und motorisierten Individualverkehr zu stoppen – aber auch: Wie müssen künftige Innenstädte beschaffen sein, wenn dort im Sommer 40 Grad die Regel sind?

Der Beitrag der Musik

Überträgt man diese vorausschauende Doppelstrategie auf die Musik, dann stellen sich zwei Fragen: Kann Musik einen ernsthaften, aktiven Beitrag zum Klima- und Umweltschutz leisten, der über die bloße Schadensbegrenzung (Flugverzicht, Kompensation) hinausgeht? Und wie kann sich das Musikleben für die erwartbaren Umbrüche rüsten? Mit anderen Worten: Um herauszufinden, für welche Zukunft Musikhochschulen überhaupt ausbilden sollen und können, bräuchte es eine interdisziplinär ausgerichtete musikalische Nachhaltigkeitsforschung.

Diese sollte sich aus zwei Forschungsrichtungen zusammensetzen: Aus einer Resilienzforschung, die danach fragt, was Musik in Krisenzeiten überleben lässt und einer Transformationsforschung, die Modelle eines Musiklebens entwickelt, das aktiv dazu beiträgt, unsere Gesellschaft insgesamt zukunftsfähiger zu machen. Diese musikalische Nachhaltigkeitsforschung sollte sowohl inner- wie auch außermusikalische, künstlerisch-kreative wie auch wissenschaftliche Expertise einbeziehen. Sie sollte, um stil- und genreübergreifende Leitlinien formulieren zu können, eine möglichst große ästhetische Vielfalt abbilden und ihre Forschungsergebnisse sollten zum Ausgangspunkt eines veränderten Curriculums gemacht werden.

Doch wie soll das gehen? Sowohl in der Klimapolitik als auch in den genannten Forschungsansätzen gibt es eine große Unbekannte: Uns Menschen. Niemand weiß, wie unsere Spezies darauf reagieren wird, wenn sich die Rahmenbedingungen unserer eigenen Existenz rasant und einschneidend verändern. Musik wiederum reagiert überaus fein und unberechenbar auf menschliche Bedürfnisse und Befindlichkeiten. Kann ein Nachdenken über die Zukunft der Musik dann überhaupt mehr sein, als bloße Kaffeesatzleserei? Ist es angesichts der vor uns liegenden Veränderungen nicht erst recht geboten, zu diesem Thema zu schweigen?

Kausalitäten statt Kaffeesatz

Die Zukunft der Musik ist ein anrüchiges Forschungsfeld. Wer kulturelle Veränderungsprozesse retrospektiv beschreibt und dokumentiert, befindet sich wissenschaftlich auf der sicheren Seite. Wer sie hingegen vorausblickend prognostiziert, macht sich angreifbar und gefährdet die eigene Reputation. Doch auch an diesem Punkt lässt sich von den Naturwissenschaften lernen. Denn natürlich können auch Klimaforscher*innen nicht hellsehen. Sie werden niemals für sich beanspruchen, exakte Vorhersagen zu formulieren. Sie sagen nicht: „In siebzig Jahren werden die Polkappen abgeschmolzen sein“. Sie äußern aber auch keine bloßen Meinungen („ich befürchte, dass die Polkappen abschmelzen werden“), sondern sie berechnen kausal verknüpfte Wahrscheinlichkeiten. Ob und wann es zu den prognostizierten geophysikalischen Kipppunkten kommt, lässt sich vielfach noch nicht mit Sicherheit sagen. Dass sie unter bestimmten Umständen eintreten werden, steht außer Frage. Dieses Denken in Kausalitäten und Wahrscheinlichkeiten lässt sich auch auf die Musik übertragen. Mutmaßungen darüber, wie die Musik der 2050er Jahre klingen wird und welche Genres, Instrumente, Technologien oder ästhetischen Ansätze „eine Zukunft haben“, gehören in den Bereich der literarischen Fiktion. Doch es gibt andere Zukunftsfragen, zu denen Musikwissenschaft, Musikjournalismus, Kulturpolitik und erst recht musikalische Ausbildungsstätten nicht schweigen müssen – und, weil diese Fragen mit wachsender Wahrscheinlichkeit den Fortbestand großer Teile unserer Musikkultur betreffen, auch nicht länger schweigen dürfen.

Während es im englischsprachigen Raum längst eine eigenständige „Ecomusicology“ gibt, ist der gesamte Themenkomplex hierzulande noch auf Einzelinitiativen angewiesen. So haben die Musikethnologin Christine Dettmann und der Klimaforscher Gerrit Lohmann im Herbst 2020 in einem online verfügbaren Videogespräch skizziert, wie sich eine weiter fortschreitende Erderhitzung auf Musikkulturen in aller Welt auswirken würde. Die Bilanz dieser ersten Bestandsaufnahme: Zahlreiche Kulturen und damit auch zahlreiche Musikkulturen drohen durch die Erderwärmung ihre angestammten Heimaten zu verlieren – mit teilweise weitreichenden Folgen für das gesellschaftliche Gefüge, die Lebensumstände und Entfaltungschancen der betroffenen Menschen. Für viele ärmere Länder und indigene Musikkulturen werden die veränderten klimatischen und ökologischen Rahmenbedingungen so unmittelbare und gravierende Auswirkungen haben, dass eine Fortführung ihres bisherigen musikalischen Erbes umöglich wird. Da sind Küs­tenregionen und Inseln, die von zunehmendem Extremwetter und steigendem Meeresspiegel bedroht sind. Da sind die Auswirkungen von steigender Hitze und Dürre, von auftauenden Permafrostböden und schwindenden Waldflächen, die sich massiv auf die dort ansässigen Völker auswirken. Aber wie sieht es bei uns in Mitteleuropa aus?

Wenn zahllose Musikkulturen in aller Welt durch die Klimakrise ihre angestammten Heimaten verlieren werden, dann wird das für unsere gemäßigten Breitengrade bedeuten, dass wir vor der Wahl stehen werden, entweder Bollwerke der kulturellen Abschottung zu errichten oder uns auf ein stark wachsendes Maß an Migration und einen entsprechenden Bedarf an multikultureller Koexistenz, interkultureller Verständigung und transkultureller Kooperation einzustellen. In einem noch nie dagewesenen Maße wird sich die Weltoffenheit, Resonanzfähigkeit und brückenbauende Wirkung unserer Musikkultur vor der eigenen Haustür zu beweisen haben. Ein kulturelles „Weiter so“ wäre also selbst dann das zynischste und am wenigsten wünschenswerte Zukunftsszenario, wenn unser Land selbst von Klimaveränderungen kaum betroffen wäre. Doch dies ist nicht der Fall. 2018 lag Deutschland auf Platz drei des jährlichen Risiko-Klima-Index. Mit anderen Worten: Es hatte in diesem Jahr die weltweit drittgrößten Schäden aus Dürre, Orkan­tiefs und anderen Extremwetterereignissen zu verkraften. Als reiches Land vermochte es diese Schäden gut zu kompensieren.

Doch dieser Reichtum muss und wird in den nächsten Jahren neu verteilt werden. Es gilt, eine Energiewende, eine Mobilitätswende, eine Landwirtschaftswende zu finanzieren und zugleich in Klimaanpassung zu inves­tieren. Dies alles wird nicht ohne Auswirkungen auf die Kultur bleiben. Wie verwundbar unser Musikleben ist, wie stark es von politischen Entscheidungen abhängt und wie schwer es gerade für die großen Musikinstitutionen ist, sich auf tiefgreifend veränderte Rahmenbedingungen einzustellen, hat uns die Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Wer den Anspruch hat, junge Talente für ihre künftige Berufspraxis auszubilden und ein wertvolles kulturelles Erbe weiterzugeben, sollte deshalb die kommenden Herausforderungen nicht ignorieren. Und ob es sinnvoll ist, in Zukunftsfragen allein auf eine Hegemonie des Digitalen zu setzen, sollte zumindest kritisch diskutiert werden.

Corona hat bei vielen den Eindruck geweckt, das Internet sei der einzig verbliebene sichere Ort für die Musik. In der gegenwärtigen Kulturpolitik ist „Digitalisierung“ deshalb geradezu ein Synonym für „Zukunftsverantwortung“ geworden. Aber kann eine Musikkultur, die ohne permanente Stromzufuhr, riesige Serverfarmen, seltene Erden, immer schneller veraltende Technik und wachsende Berge von Elektroschrott nicht mehr lebensfähig ist, wirklich die einzige Antwort auf wachsende Verwundbarkeit und ein dramatisches Näherrücken der planetaren Belastungsgrenzen sein?

Mindestens ebenso wichtig sind jene neuen Allianzen und ersten Schritte, die sich mancherorts bereits beobachten lassen, auch wenn sie gegenwärtig noch nicht im Zentrum der musikalischen Forschung und Lehre stehen. Einige Musikhochschulen haben sich institutionelle Nachhaltigkeitskonzepte erarbeitet, die Münchner Musikhochschule beteiligt sich an einem „Netzwerk Hochschule und Nachhaltigkeit“. In Freiburg haben Studierende und Lehrende ein Open-Space-Forum namens „FREIDay“ gegründet. In Hamburg und Köln, München und Ludwigsburg werden Seminare zum Thema „Musik und Klima“ angeboten; gleichzeitig hat die Green Music Initiative damit begonnen, entsprechende Forschungsarbeiten zu sammeln. Und die Musikuniversität Wien hat Anfang des Jahres zu einer mehrtägigen Zukunftswerkstatt eingeladen, bei der fächer­übergreifend darüber nachgedacht wurde, wie sich der Klima- und Umweltschutz als Querschnittsthema in das künstlerische, pädagogische und wissenschaftliche Curriculum implementieren lässt.

Wer für eine Zukunft vorsorgen möchte, in der die ganze Vielfalt unseres musikalischen Erbes gepflegt und weiterentwickelt werden kann und in der musikalischer Erfindungsgeist auch weiterhin einen fruchtbaren Boden vorfindet, sollte dafür alle Ressourcen mobilisieren, die unsere Musikwelt zu bieten hat. Selbstverständlich zählen dazu auch künstlerische Exzellenz und digitale Innovation – aber eben nicht nur. Die günstigen Lebensbedingungen, die unser Planet uns bisher bot, haben einen unermesslichen Reichtum an regionalen und ressourcenschonenden Musikkulturen hervorgebracht. Jede von ihnen ist ein immens wertvoller Wissensspeicher, der mal von Identität und Eigenart erzählt, mal von lebendigen Formen des Kulturtransfers, der gastfreundlichen Begegnung und des respektvollen Zusammenlebens. In jeder von ihnen drückt sich eine spezifische Beziehung zur Natur, zur jeweiligen Landschaft und Geschichte aus. Aus diesem Reichtum gilt es zu lernen: In analogen Community-Semestern, fachbereichsübergreifenden Forschungswerkstätten und Instituten für angewandte Zukunftsmusik. Und dafür braucht es Musikhochschulen, die zur Zukunft nicht schweigen.

  • Das Videogespräch mit Christine Dettmann und Gerrit Lohmann findet sich auf musik-und-klima.de unter dem Menüpunkt „Bedrohte Musik“.

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