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Rudolf Kehrer 1961. Foto: privat
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Verbannt für dreizehn entscheidende Jahre – Die ungewöhnliche Laufbahn des Pianisten Rudolf Kehrer

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Er war ein vielseitiger Musiker, ein leidenschaftlicher Pädagoge, ein Grenzgänger zwischen Ost und West: der Pianist Rudolf Kehrer. Nun ist der gebürtige Georgier am 29. Oktober im Alter von neunzig Jahren gestorben. Wer ihn einmal im Konzert erleben konnte, wurde schnell von der Bühnenpräsenz dieses Pianisten eingenommen. In seinem intuitiven Reagieren auf den Notentext riskierte er vor Publikum und Rundfunkmikrofonen viel, mehr als so manch andere junge Pianist, den Live-Aufnahmen hemmen. Vielleicht liegt das daran, dass Kehrer oft unter schwierigen Umständen konzertierte und stets weniger auf die perfektionistische Arbeit im Tonstudio als auf spontanes Musizieren angewiesen war. Die wenigen produzierten Aufnahmen lassen diese Musizierhaltung jedenfalls oft erspüren.

Denn die Pianistenkarriere von Rudolf Kehrer beginnt erst spät, erst in einem Lebensabschnitt, da andere schon längst einen „Namen“ und Podiumserfahrung haben. Wie der Werdegang vieler sowjetischer Künstler seiner Generation, ist Kehrers Laufbahn vor allem politisch bestimmt. In Tiflis wurde er 1923 in einer deutschstämmigen Familie von Klavierbauern geboren, die ausgewandert waren. Sein musikalisches Talent wurde früh erkannt, und ein Vorspiel in Moskau bei Heinrich Neuhaus, dem berühmten Pädagogen und Lehrer, unter anderem von Emil Gilels und Swjatoslaw Richter, war bereits vereinbart, als 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel. Rudolf Kehrer wurde als Deutscher mit seinem Bruder und seiner Mutter nach Südkasachstan in ein kleines Dorf verbannt. Diese Verbannung bedeutete eine schwierige Zwangspause für den gerade 18-jährigen Musiker. Sein vielversprechendes Musikstudium musste er im besten Alter für dreizehn Jahre unterbrechen. In dieser Zeit absolvierte Kehrer ein Fernstudium in Mathematik und Physik, um diese Fächer in den unteren Klassen an einer Schule unterrichten zu dürfen und sich und seine Familie zu ernähren. An eine Pianistenkarriere war nicht mehr zu denken. „Dreizehn Jahre habe ich keine Musik gehört, keinen Rundfunk, nichts“, erinnert sich Kehrer. „Vom 15. bis zum 30. Lebensjahr ist man normalerweise wie ein Schwamm. Das sind die besten Jahre; da saugt man alles in sich hinein. Ich musste mich in diesen Jahren mit verschiedenen Sachen beschäftigen.“

Als Stalin starb und sich die politische Lage für die Deutschen etwas entspannte, war Rudolf Kehrer bereits 31 Jahre alt. Er war mittlerweile verheiratet und hatte eine eigene Familie. Dennoch: Die Musik hatte ihn nicht losgelassen. Da war immer noch die fixe Vorstellung, nur als Musiker seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Die Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Taschkent sollte in dieser Situation entscheiden. Dank der finanziellen Unterstützung seines Bruders zog sich Kehrer einen Monat zu harter Arbeit am Klavier zurück. Auch wenn die Finger nach der langen Spielpause zunächst nicht so recht wollten, klappte das Unternehmen. Kehrer konnte an ein gutes technisches Fundament anknüpfen und nahm sein Klavierstudium im dritten Ausbildungsjahr wieder auf.

Bei einer normal verlaufenden Pianistenlaufbahn wären diese biographischen Einzelheiten nicht so wichtig: Ob und unter welchen Umständen der „Durchbruch“ erfolgte, interessiert da mehr anekdotisch als musikalisch. Bei Rudolf Kehrer ist das anders. Die außergewöhnlichen Lebensumstände gehören hier zur Sache selbst.

So konnte 1961 der bereits 37-Jährige nur mit einer Sondergenehmigung am Allunionswettbewerb der Musikinterpreten in Moskau teilnehmen.

Überraschend erhielt Kehrer den ersten Preis. Damit gewann er – nach Swjatoslaw Richter 1945 – den zweiten Nachkriegswettbewerb, der in der damaligen Sowjetunion große Bedeutung hatte und zu dem viele Musiker angereist waren. In der Begründung der Jury hieß es unter anderem: „Er ist ein Phänomen im Musikleben der Sow-jetunion, ein großes und reifes Talent von origineller Individualität, ausgestattet mit den besten Qualitäten pianistischen Könnens …“ Im Abschlusskonzert spielte Kehrer damals das erste Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, und im Anschluss an den Wettbewerbserfolg entstand 1961 eine Aufnahme dieses ersten Prokofjew-Konzerts mit den Moskauer Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Kondrashin. Der erste Preis öffnete Kehrer die Türen, zumindest in der Sowjetunion und in den ehemaligen Ostblockstaaten. Im Westen war der viel konzertierende Pianist und Professor am renommierten Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium kaum jemandem ein Begriff.

Im Gegensatz zu dem ebenfalls deutschstämmigen Swjatoslaw Richter gelang es Kehrer in den 1980er-Jahren immer noch nicht, die Genehmigung zu Konzerten jenseits des Eisernen Vorhangs zu bekommen. Auch die Schallplattenaufnahmen für das sowjetische Melodija-Label gelangten nur vereinzelt über die Grenze. „Wer gute Beziehungen hatte ...“, so Kehrer. „Richter hatte eine tüchtige Frau, die war mit Vielen bekannt. Sie war eine gute Sängerin und hatte Bekannte im Ministerium. Mit einem Wort: da gab es Leute, die sich für Richter eingesetzt haben, dass er ausreisen durfte.“ Kehrer begann erst nach der Wende in meist kleineren Konzertsälen im Westen zu konzertieren, wirkte seit 1990 als Gastprofessor in Wien, war mehrmals Jurymitglied bei internationalen Wettbewerben und gab immer wieder Meisterkurse. Die Lehrtätigkeit war für Rudolf Kehrer bis zuletzt wesentlicher Teil seiner Musikerlaufbahn. Weil sich Kehrer auf keinen Personalstil festgelegt hat oder festlegen ließ, kann man ihn als Interpret auch keinem bestimmten Komponisten zuordnen. Dennoch ist ihm insbesondere das klassisch-romantische Repertoire des 19. Jahrhunderts vertraut. So sind etwa Chopins Préludes für Rudolf Kehrer besondere Kostbarkeiten gewesen, auch wenn er Chopins Sonaten, Balladen oder Scherzi auch gerne und häufig gespielt hat. Er näherte sich diesen 24 Miniaturen als Betrachter äußerst atmosphärischer Bilder, die zwar in ihrer jeweiligen Farbigkeit und Empfindsamkeit schon einzigartig sind, sich allerdings erst in ihrem Zyklusgedanken wahrhaftig entfalten können. Als ausgesprochener Chopin-Pianist wollte Kehrer trotzdem nicht gelten.

„Ich kann nicht sagen, was besser ist, Bach, Beethoven, Rachmaninow oder Chopin? Das sind alles verschiedene Sachen. So wie Kleider. Einmal ziehen Sie ein rosafarbenes Kleid an, und dann nach drei, vier Tagen möchten Sie es nicht mehr tragen. Dann haben Sie ein blaues, und dann denken Sie, es gibt nichts Besseres als blau. Und dann ziehen Sie ein weißes an. So geht es mir. Wenn ich Bach spiele, dann denke ich, schön, menschlich, klug polyphonisch – da gibt es nichts Anderes. Wenn ich dann Franck spiele, der auch sehr polyphon geschrieben hat, dann blühe ich hier auf. Das sind alles verschiedene Sachen. Da kann man und darf man und braucht man nicht vergleichen.“

Seine letzten Konzerte gab Rudolf Kehrer in den Jahren 2006/07. Vor drei Jahren zog er nach Stationen in Zürich und Leverkusen nach Berlin in die Nähe der Familie seines älteren Sohnes. Dort starb er am 29. Oktober im Alter von 90 Jahren.

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