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Zirzensische Selbstauskünfte

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Eine nicht gerade alltägliche Kombi, die Grégoire Blanc und Adumá hier präsentieren: Saxophonquartett plus Theremin. Zum 100. Geburtstag des nostalgischen Sphären-Instrumentes vergab das Berliner Quartett Aufträge, die erstmals beide Klangkörper kompositorisch zusammendenken und dabei altbekannte Theremin-Klischees so gar nicht erfüllen!

Zwischen Verschmelzung und Abgrenzung findet diese Begegnung in Nicolaus Richter de Vroes „Flechten“ (2021) in ständig neuen symbiotischen Gestaltzusammenhängen statt. Helmut Oehrings „Aurora“ (2020) hingegen nutzt das Theremin zunächst ganz anders: als Hintergrund-Dröhnen in denkbar tiefster Lage. Seine Auseinandersetzung mit dem Exil-Dasein vermengt unsicher tastende Klänge mit flüchtigen Vokal-Akzenten zur melancholischen Befindlichkeitsstudie. „Musik mit Wurm drin“ (2021) heißt das Stück von Robin Hoffmann und der Titel ist Programm: ein Klanggefüge, das sich immer wieder neu sortieren muss. Lapidare rhythmische Gesten, windschiefe Traurigkeit, nix geht hier wirklich zusammen, bricht ab, startet erneut, ohne ein wirkliches Ziel. Das anspielungsreichste Stück ist Oxana Omelchuk zu verdanken: Sie hat in „Termen Vox“ (2021) die Stimme aus dem letzten Interview von Lev Termin zum Instrumentalgewebe transformiert und schräge Schnipsel russischer Salonmusik hinein geheimst, eine unwirkliche Reise in eine imaginäre Vergangenheit. (edition zeitklang)

Ein ganzes Arsenal illustrer (Tasten-)Instrumente, das die österreichische Pianistin Dorrit Bauerecker hier in eine „One Woman Band“ verwandelt: Sie spielt Klavier, Spielzeugklavier, Keyboards, Akkordeon und Melodica, muss singen, sprechen, schreien und Tapes zuspielen, manchmal auch alles gleichzeitig, zum Beispiel in Moritz Eggerts titelgebendem „One Woman Band“, Stück Nr. 30 aus dessen Klavierzyklus „Hämmerklavier“ (2020): Dort gilt es Klavier, Samples, hochhackige Schuhe, Kaffeemaschine und Herdplatte mit Wasserkessel zu koordinieren. Multitasking ist also gefragt. Oxana Omelchuks „gfätterle“ (2016) ist das genaue Gegenteil von alldem: ein Klangkontinuum für Akkordeon, Casio-Keyboards und Melodica-Ambient im Low Tec-Modus. Den Vogel schießt aber Niklas Seidl mit seiner Hamburger ‚Milieustudie’ „Gichtgriffel und Achterbeene“ für Schifferklavier und Fußpedale ab (2016). Die abgründige Collage, in der Bauerecker zirzensisch Sprechstimme und Akkordeon synchronisieren muss, enthält schmerzende Selbstauskünfte von Menschen aus der Obdachlosenszene, das nackte Leben. (Kaleidos)

Lange nicht mehr eine so im besten Sinne seltsame Instrumentalmusik gehört, wie diejenige von Andrew Greenwald (*1980), Mitglied des hier federführenden Komponisten- und Performerkollektivs Pamplemousse. Vor allem, wenn man seine zwischen 2016 und 2021 komponierte Kammermusik-Serie „A Thing Made Whole“ als Ganzes betrachtet. Die Konzentration auf die klingende Physis des Augenblicks und eine Vorliebe für brüchige Obertonklänge stehen hier durchaus in gewisser Tradition der amerikanischen Avantgarde, aber bei Greenwald wächst dabei Stück für Stück eine immer surrealere Gestaltwelt heran. Im Anfangsstück des Zyklus’ für Violine dominieren noch geräuschhaft-perkussive Akzente und instabile Klanggebungen, als wäre hier eine Bach-Partita verdampft worden. Aber schon im zweiten Stück für Kammer­ensemble kommen mehr und mehr Klang-Partikel mit festeren Konturen hinzu, Motiv-Fragmente, melodische Splitter, tonale Klavier-Einsprengsel bevölkern vielfarbig eine morbide Klangwelt, unvorhersehbar zusammengefügt aus scheinbar Zusammenhangslosem. Im fünften Stück für Klavier und Streichquartett tauchen dann endgültig Versatzstücke traditioneller Musik auf, romantische Intarsien und harmonische Jazz-Anleihen ziehen  den Zyklus dann endgültig in die Umnachtung hinein. Greenwalds Musik klingt, als würde man mitten in der Nacht plötzlich wach und wüsste einen Moment lang überhaupt nicht, wo man sich befindet. Bei Greenwald dauert dieser Moment 71 Minuten und 36 Sekunden. (Kairos)

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