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Zum 30. Todestag des rastlosen Chet Baker

Untertitel
Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus Woelfle
Publikationsdatum
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Schon zu seinen Lebzeiten war die Fülle der Aufnahmen des Trompeters und Sängers Chet Baker nicht zu überblicken. An keine Plattenfirma fest gebunden, rastlos von Ort zu Ort fahrend, war er gerne jederzeit bereit aufzunehmen, allein schon um damit den nächs­ten Schuss zu finanzieren. Nach seinem Todessturz aus dem Fenster eines Amsterdamer Hotels am 13. Mai 1988 schossen nicht nur die Legenden ins Kraut, sondern posthume Chet-Baker-Alben wie Pilze aus dem Boden.

Man nahm hin, dass nicht alles, was in Zusammenhang mit ihm gedruckt wurde, stimmte, und seien es nur die schlichten Besetzungsangaben auf der Platte. Kritische Gesamtausgaben, auf dem jüngsten Stand der wissenschaftlichen Forschung, wie es sie bei klassischen Komponisten und Dichtern gibt, wären ein Desiderat im Jazz, kann es aber nicht geben, solange die Rechte bei verschiedenen Plattenfirmen liegen.

Das Label Le chant du monde schreitet mutig voran und bietet, wobei es die geringsten Schwierigkeiten gibt: das Frühwerk. Chet Bakers Aufnahmen der 50er-Jahre, vom kometenhaften Aufstieg im Gerry Mulligan Quartet 1952 bis zum Beginn des zweiten Italien-Aufenthalts 1959 wurden in zwei handliche Bände à zehn CDs verpackt: The Thrill Is Gone. The Complete Studio Master Takes 1952–1956 und Rebel At Work. The Complete Studio Master Takes 1956–1959. Dass die Herausgeber sich auf die Studioaufnahmen beschränken, ist schade (fehlen dadurch so wichtige Kapitel wie Chet Bakers Zeit mit Charlie Parker), aber legitim. Durch Verzicht auf die Live-Aufnahmen werden Alben wie „Konitz Meets Mulligan“ unvollständig, in denen Live- und Studiomaterial gemischt war. Dass es manchmal schwer fällt festzustellen, ob die Aufnahme live ist oder nicht, sei vermerkt.

Band 1 bietet mehr als der Titel verspricht: zwei CDs bestehen nur aus Alternate Takes. Zwei Alben, auf denen Chet Baker die Vokalisten Johnny Pace und Annie Ross begleitet, wurden zwar zu Recht als weniger wichtig eingestuft, aber zu Unrecht ausgelassen, denn entweder macht man eine Gesamtausgabe oder man bietet eine Auswahl. Entscheidet man sich für die Gesamtausgabe, muss man eben auch das Irrelevante oder Missglückte einbeziehen.

Da damit geworben wird, man habe sich „größte Mühe gegeben, editorisch der Wahrheit nahezukommen,“ muss auf Fehler und Irrtümer hingewiesen werden. „Lady Bird“ vom 7. Mai 1953 ist nicht die gleichnamige Tadd-Dameron-Komposition, auch wenn das seit Generationen so abgeschrieben wird. Die „Exitus“-Versionen vom 28. November 1955 und vom 26. Dezember 1955 wurden miteinander vertauscht. Bei der Besetzung von „A Night On Bop Mountain“ vom 31. Juli 1956 wurde Bill Loughborough vergessen.  Zwar wurde bei den Trio-Aufnahmen vom 9. Dezember 1957 endlich gemerkt, dass ein seit der Erstveröffentlichung durch sämtliche Biografien herumgeisternder Bassist Ross Savakus nicht existiert; sein Name wurde in Russ Saunders berichtigt, dafür treibt nun das Phantom Russ Savaku sein Unwesen in den Septett-Aufnahmen. Der Drummer Gene Victory verkommt siebenmal in den Besetzungslisten zu Voctory. Der Begleittext ist sehr informativ, auch wenn Band 2 mit längeren Ausführungen beginnt, die zu den Aufnahmen von Band 1 gehört hätten. Gelegentlich stutzt man verwundert über Bemerkungen wie die Behauptung, zu den unleugbaren Gemeinsamkeiten von Art Pepper und Chet Baker hätten „sonorités dures“ gehört. Nein, das Gegenteil eines harten Sounds war Bakers Markenzeichen! Schade, dabei wären die beiden Bände allein schon wegen des sorgfältigen Remasterings als Referenzedition unschlagbar (preislich ist sie es ohnehin), hätte nur einmal ein Fachmann die Edition kritisch gesichtet. (Le chant du monde)

Ebenfalls zum Gedenktag erschien Chet Baker sings, in der man die Entwicklung Bakers als Sänger chronologisch auf drei CDs nachvollziehen kann. Sie verspricht im Untertitel „the complete vocal studio recordings 1953–1962“. Das ist nicht ganz richtig, fehlen doch die Aufnahmen von 1962, auf denen er auf Italienisch singt. Dafür findet sich eine Rarität: Ältere Aufnahmen wurden 1962 im Overdub-Verfahren mit einer zusätzlichen Gitarren-Begleitstimme abgemischt, die kein Geringerer als Joe Pass einspielte. (Le chant du monde) 

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