Mit vielfältigen Veranstaltungen und Angeboten unter dem Motto „KUNST. MACHT. MENSCHLICHKEIT.“ haben die 24 staatlichen Musikhochschulen am 27. November ein Zeichen gegen Diskriminierung und Machtmissbrauch gesetzt. Anlässlich dieses Aktionstages gibt Antje Kirschning, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin und Sprecherin der bukof-Kommission Künstlerische Hochschulen einen Einblick in das wichtige Thema Intimitätskoordination.
Foto: nmz
„Ich darf Sie doch anfassen ?“
Der Unterricht und Proben an Musikhochschulen sind besonders anfällig für Grenzüberschreitungen – insbesondere bei der szenischen Darstellung von Intimität, Nacktheit, verschiedenen Ausprägungen von Sexualität und sexualisierter Gewalt. Dennoch fehlen bislang Lehrformate, in denen Studierende ihre persönlichen Grenzen ausloten können. Die jungen Darstellenden, die exzellent singen und schauspielern sollen, müssen zusätzlich überlegen, wie sie sexuelle Handlungen und sexualisierte Gewalt auf der Bühne darstellen können, ohne körperliche oder seelische Grenzen zu überschreiten. Dabei sind die hoch emotionalen und oft existentiellen Inhalte in Lied- und Operntexten eine Herausforderung.
Wenn im Rahmen des Studiums sexuelle, erotische, gewaltvolle und/oder rassistische Handlungen künstlerisch dargestellt werden müssen oder entsprechende Inhalte Teil der künstlerisch-praktischen Ausbildung sind, haben Lehrende eine besondere Verantwortung. Vor der Darstellung oder Behandlung solcher Inhalte sollten sie die Studierenden umfassend informieren und ihre ausdrückliche und freiwillige Zustimmung einholen. Allen Beteiligten muss erlaubt werden, ihre Zustimmung jederzeit zu widerrufen. Zusätzlich sollten Reflexionsgespräche angeboten werden, um die Auswirkungen der dargestellten Inhalte zu besprechen. Bei der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Repertoire ist es wichtig, dass Hochschulen ihre Fürsorgepflicht als Ausbildungsinstitute ernst nehmen und Studierenden ermöglichen, auch stereotype Rollenbilder und strukturelle Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren. Studierende sollten diese Themen in einem geschützten Rahmen angstfrei besprechen und immer wieder trainieren können.
Grenzüberschreitungen
Die Sopranistin Felicia Brembeck, die in Berlin und Leipzig Operngesang studiert hat, meint im Nachhinein, dass sie mit großer Lust am Ausprobieren in die Ausbildung gestartet sei, rückblickend jedoch mehr Schutz gebraucht hätte. Sie sei mit der Einstellung ins Studium gekommen, dass man sich da nicht so anstellen darf und Grenzüberschreitungen zum Beruf gehören. In jeder einzelnen Produktion habe sie mindestens eine Szene erlebt, die eigentlich in den Bereich der Intimitätskoordination gefallen wäre (Schors 2024). Dieses individuelle Resümee wird gestützt von Ergebnissen verschiedener Studien. Der Bundesverband Schauspiel e.V. (BFFS) hat 2022 eine Studie zu „Erfahrungen von Schauspieler:innen mit Nacktheit und simuliertem Sex“ durchgeführt. Danach hat der Großteil der befragten Schauspieler:innen bereits während der Ausbildung und auch im Beruf mehrfach Grenzverletzungen, sexuelle Belästigung oder sexualisierte Gewalt erfahren. Die große Mehrheit der Befragten bemängelt, dass es während der Ausbildung keine Fortbildung zu diesen Themen gab, nämlich 84 Prozent.
Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an künstlerischen Hochschulen fordern seit 2023 mehrsprachige, verpflichtende und unbenotete Seminare zum professionellen Umgang mit Nähe und Distanz. Studierende sollten von Intimitätskoordinator:innen verbale und nonverbale Umgangsformen erlernen und einüben: „Das Training beinhaltet, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und gegenüber anderen zu behaupten – idealerweise auch gegenüber Respektspersonen. Wichtig ist ebenso, die Grenzen des Gegenübers zu erkennen und zu respektieren und Einvernehmen zum Beispiel über die Darstellung von Intimität auf der Bühne herzustellen.“ (bukof 2023)
Auch viele Studierende wünschen sich genau dies. 30 Studierendenvertretungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben Ende 2023 „Forderungen zur Prävention und Intervention von übergriffigem, unangemessenem und missbräuchlichem Verhalten an Musikhochschulen“ veröffentlicht. Sie fordern unter anderem professionelle Unterstützung durch Intimitätskoordinator:innen. Viel zu oft noch werden übergriffige Verhaltensweisen als Einzelfälle dargestellt, anstatt Grenzüberschreitungen als strukturelles Problem anzuerkennen.
„… oder rufen Sie dann gleich die Polizei?“
Eine Studentin erzählt, dies habe ihre Hauptfachlehrkraft zu Beginn des gemeinsamen Unterrichts gesagt. Die Hochschulleitung wolle neuerdings, dass über Anfassen im Unterricht gesprochen wird. Hiermit hole sie sich nun das Einverständnis ab. Was läuft hier schief?
Diese Lehrperson hat offenbar nicht verstanden, dass sie sich per se in einer machtvolleren Position befindet und besonders sensibel und verantwortungsvoll mit dieser Macht umgehen muss. Sie stellt eine rhetorische Frage und scheint sich von dem Anliegen sogar abgrenzen zu wollen und es ins Lächerliche zu ziehen. Würde sie es ernst meinen, müsste sie die Gründe für sachdienliches Anfassen im Unterricht vorab benennen und Alternativen anbieten. Erst nach ausdrücklicher Zustimmung, die selbstverständlich widerrufen werden darf, dürfte sie fortfahren.
Dieses Verhalten deutet auf große Verunsicherung hin, die die Lehrkraft überspielt. Manche Lehrende sagen, bei ihnen habe sich noch nie jemand beschwert. Doch aus dem Umstand, dass keine Beschwerden vorliegen zu schließen, dass alles perfekt laufen würde, greift natürlich zu kurz. Im Gegenteil: Wenn ab und an jemand seine Grenze aufzeigt und sich traut, ein „Stopp“ zu setzen, ist dies ein Zeichen dafür, dass ein Vertrauensverhältnis besteht. Denn etwa als Sänger:in eine Probe zu unterbrechen oder Bedenken zu äußern, ist in der Regel nicht vorgesehen. Die Angst, als zickig, divenhaft oder unflexibel zu gelten, lässt viele Studierende verstummen und so manche Grenzen verschieben. Lehrende können sich also glücklich schätzen, wenn ihre Studierenden sich trauen, „Nein“ zu sagen. Das ist ein Beleg für ihr Vertrauen, deshalb nicht schlechter behandelt oder anderen gegenüber benachteiligt zu werden.
Sensible Arbeitsvorgänge
Der Deutsche Kulturrat legte 2024 eine Positionierung zum wertschätzenden Arbeiten und respektvollen Miteinander im Kunst-, Kultur- und Medienbereich vor. Er geht darin auch auf Musik- und Kunsthochschulen ein.
„In Proben- und Übungsprozessen, in der Lehre, auf und hinter der Bühne sowie am Set wird häufig auf engem Raum zusammengearbeitet. Berührungen können zum Alltag gehören. Ist körperlicher Kontakt notwendig, muss dieser in beiderseitigem Konsens erfolgen und verlangt besondere Sensibilität. Vor allem im Bereich der Darstellenden Künste können beispielsweise Intimitätskoordinator:innen zwischen der Vision der Regisseur:innen und dem Schutzbedürfnis der darstellenden Personen vermitteln. Dazu ist es wichtig, insbesondere in sensiblen Arbeitsvorgängen, in denen beispielsweise grenzüberschreitende Szenen dargestellt werden, auf gegenseitige Einvernehmlichkeit zu achten.“
Da an den Musik- und Kunsthochschulen die Kulturschaffenden von Morgen ausgebildet werden, ist eine enge Verzahnung geboten. Intimitätssensibel ausgebildete Absolvent:innen könnten die darstellenden Kunstbranchen insgesamt reformieren.
Die Zeiten, in denen Aufforderungen wie „jetzt macht einfach mal“ bei Nacktheit, Küssen und Sex-Szenen gezwungenermaßen nachgekommen und improvisiert werden musste, sind vorbei. Durch die #MeToo-Bewegung entwickelte sich ein Problembewusstsein und daraus entstand in der Regiearbeit beim Theater und Film der neue Beruf der Intimitätskoordination. Sie sorgt dafür, dass trotz Machtdynamiken persönliche Grenzen zu jedem Zeitpunkt einer Produktion gewahrt bleiben. Wenn also intimen Szenen, die beispielsweise Sexualität, Liebe, Gewalt, Sterben oder Geburten darstellen, erarbeitet werden, choreographieren sie diese in Absprache mit der Regie und allen Beteiligten. Die Frage, was intim ist, kann jede und jeder nur für sich selbst beantworten. In der Regel wird es intim, wenn man sich körperlich nahekommt oder wenn unbedeckte Haut sichtbar wird. Die Grenzen der Intimsphäre sind subjektiv unterschiedlich je nach dem Kontext, dem Gegenüber, der Tageszeit und -form, der familiären und vor allem auch kulturellen Prägung. Es bedarf einer Sensibilisierung für den gesamten Arbeitsprozess, das heißt von der künstlerischen Idee, dem Drehbuch, über die Besetzung bis hin zu den Probenarbeiten. Ziel ist es, bei der Darstellung von intimen Szenen individuelle Grenzen direkt und sorgenfrei ansprechen zu können. Dies beinhaltet, ein Nein als kreative Herausforderung zu begreifen. Ein Grundpfeiler von Konsens besagt: „Nur wenn ein Nein etabliert wurde, kann einem Ja vertraut werden“. Diese Haltung setzt viel Spielfreude und Kreativität frei.
Intimitätskoordinator:innen achten in der gesamten Probenzeit darauf, dass benannte physische und psychische Grenzen eingehalten werden und anschließend auch mit Ton- und Bildmaterial respektvoll umgegangen wird. Eine achtsame Kommunikation über Intimität und Sexualität sowie Erlernen von Techniken zu deren Simulation und Choreografie kann Hochschullehrende im Unterricht oder bei Inszenierungen entlasten. Mit einfachen Methoden werden solche Szenen wiederholbar gemacht und Missbrauch von Situationen, in denen sich Darstellende verletzlich machen, vorgebeugt. Auf diese Weise können sie sich besser auf die Betreuung vor allem von Regie- und Gesangsstudierenden konzentrieren. Diese sollen damit später im beruflichen Alltag selbstbewusst und professionell umgehen können. Doch tatsächlich müssen sich parallel auch viele Lehrende in intimitätssensiblem Unterrichten weiterbilden. Auf Zustimmung basierende Arbeitsweisen mit herausfordernden Szenen können zu einem achtsame(re)n Umgang mit persönlichen körperlichen und seelischen Grenzen von Sänger:innen und Regisseur:innen führen. Insgesamt fördert diese Offenheit die Qualität in der künstlerischen Ausbildung. In praktischen Übungen und szenischem Arbeiten sollten sich die Studierenden mit der Choreografie der genannten Darstellungen beschäftigen. Dies setzt unter anderem intensives Reflektieren von persönlichen familiären und kulturellen Prägungen voraus. An Hochschulen sollte ohne Nacktheit und mit Platzhaltern für Küsse gearbeitet werden. Persönliche Grenzen und Anliegen sollten in einem geschützten Rahmen bereits vorab artikuliert und auf Wunsch vertraulich behandelt werden.
Fünf Prinzipien des Einvernehmens
Die Basis für diese Arbeit bildet der „Consent“. Er kann in diesem Kontext am ehesten mit den deutschen Begriffen Einwilligung, Einvernehmen oder Zustimmung übersetzt werden („Konsens“ meint dagegen die Entscheidungsfindung in Gruppen). Das Konzept des Consents beschreibt die Praxis, dass jede Person entsprechend der eigenen persönlichen Grenzen die Zustimmung zu Verhaltensweisen geben oder verweigern kann. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass „stille“ Zustimmung nicht vorausgesetzt werden kann, sondern aktiv gestaltet werden muss. Der Fokus der Consent-Methode liegt darauf, die Handlungsfähigkeit aller Beteiligten zu sichern und ein konstruktives, kollaboratives Arbeiten zu etablieren. Die Choreografie schließlich, der abgestimmte szenische Ablauf, der wiederholbar, einvernehmlich und sicher ist, dient der Unterstützung und Umsetzung der künstlerischen Vision.
Hilfreich beim Erarbeiten von intimen Szenen sind fünf Prinzipien, die für sichere Probenarbeit im Bereich Intimitätskoordination aufgestellt wurden. Sie werden nach den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe auch die fünf Cs genannt:
- Context/Kontext:
Alle Darstellenden und Mitglieder des (Produktions-)Teams wissen, wozu die Intimität zwischen den Figuren der Geschichte und der Inszenierung dient. - Communication/Kommunikation:
Eine kontinuierliche Kommunikation zwischen allen Beteiligten wird sichergestellt. Es muss jederzeit möglich sein, Unbehagen zu äußern und Verhalten, das als grenzüberschreitend empfunden wird, zu besprechen und lösungsorientiert zu diskutieren. - Consent/Einverständnis:
Jede:r Darstellende legt individuelle Grenzen fest, einschließlich der Handlungen und Formen der Berührungen, die er oder sie innerhalb einer Produktion für akzeptabel hält. - Choreography/Choreographie:
Auf der Grundlage des vereinbarten Einverständnisses wird eine sichere Choreografie erstellt und bei den Proben und Aufführungen umgesetzt. Von dieser darf nur nach vorheriger Absprache und im Konsens abgewichen werden. - Closure/Abschluss:
Nach einer Probe oder Aufführung markiert ein kleines abschließendes Ritual das Ende der Intimität. Gemeinsam werden die Grenzen zwischen dem Professionellen und dem Persönlichen gezogen.
Parallelen beim Küssen und Kämpfen
Bei der Darstellung von Gewalt oder Kampf ist es selbstverständlich, für die Choreographie professionelle Unterstützung dazu zu holen, um das körperliche Verletzungsrisiko zu minimieren. Solches Verantwortungsbewusstsein sollte analog für intime Szenen gelten, denn hier kommen das mentale und emotionale Verletzungsrisiko hinzu (so Barrawasser 2021). Entsprechend arbeitet auch der Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie (BIK) daran, in der Film- und Theaterbranche branchenübergreifende Standards zu implementieren, die für alle Beteiligten mehr Sicherheit gewährleisten.
Professur für Szene & Intimitätskoordination
In einigen Ländern sind Intimitätskoordinator:innen inzwischen verpflichtend. Die amerikanische Intimacy Professionals Association (IPA) bildet Intimacy Coordinator seit vielen Jahren aus. In Deutschland arbeitet der Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie (BIK) daran, im Film- und Theaterbereich branchenübergreifende Standards zu implementieren. Damit Absolvent:innen der Musik- und Kunsthochschulen internationale Standards erfüllen, sollten die Hochschulen hier aufholen. Ziel sollte es sein, die sehr gute Qualität der künstlerischen Ausbildung durch neue, auf Zustimmung basierende Lehr- und Arbeitsprozesse zu verbessern. Immerhin hat die Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf seit 2024 die bundesweit erste Professur für Szene & Intimitätskoordination. Die Juniorprofessorin Hanna Werth ist als gelernte Schauspielerin überzeugt, niemand müsse etwas tun, was er oder sie nicht will, wenn es persönliche Grenzen verletzt. „Bei der Arbeit auf der Bühne gibt es immer Alternativen“.
Literatur
- Chelsea Pace: Staging Sex. Best Practices, Tools, and Techniques for Theatrical Intimacy, Routledge Publishing 2020
- Bundesverband Schauspiel e.V. (BFFS): Erfahrungen von Schauspieler*innen mit Nacktheit und simuliertem Sex. Teil 1 der Umfrage zur Darstellung von Intimität, Nacktheit und sexualisierter Gewalt unter Schauspieler*innen des Bundesverband Schauspiel e.V.(BFFS). In Kooperation mit dem Institut für Medienforschung Universität Rostock und mit dem culture change hub, Barbara Rohm, Berlin 2022, www.bffs.de
- Initiative gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen: Forderungen zur Prävention und Intervention von übergriffigem, unangemessenem und missbräuchlichem Verhalten an Musikhochschulen, 2023, www.fzs.de
- bukof-Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen, 2023, https://bukof.de
- Magz Barrawasser: Das muss echt sein! Intimitätskoordination im Theater, 2021, Nachtkritik, 25. November 2021, https://nachtkritik.de
- Anna Schors: Ich war mit der Einstellung ins Studium gekommen, dass man sich nicht so anstellen darf und das zum Beruf gehört. – Szenen mit extremer körperlicher Nähe werden auf der Opernbühne zunehmend bewusst choreographiert, durch sogenannte Intimitätskoordination. Welche Rollen spielen die Musikhochschulen bei diesem Bewusstseinswandel? Van Magazin, 17. Juli 2024, https://van-magazin.de
- Deutscher Kulturrat: Gemeinsame Verantwortung: Für sicheres und respektvolles Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien, 26. September 2024, www.kulturrat.de
- Das selbstverständliche Nein – Bundesweit erste Professur für Intimitätskoordination mit Hanna Werth besetzt, nmz 12/24-1/25, www.nmz.de
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