Was prägt unser Leben, was ist uns wichtig? Was soll weiter existieren, wenn die Katastrophe hereinbricht? Kurzum: Was bleibt, wenn alles untergeht? In ihrer selbst entwickelten Oper „AI-Cinas Archiv“ verhandeln Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) wichtige Fragen unserer Zeit. Nach drei Jahren Arbeit feierte die Produktion am 19. Juni 2025 ihre Uraufführung – als umjubelter Höhepunkt des Musiktheaterprojekts „n[o]ice!“ und einer bislang beispiellosen Zusammenarbeit der Ausbildungsbereiche Operngesang und Komposition.
Die Künstliche Intelligenz AI-Cina (Chiara Ducomble) verbindet sich mit Manager Ratte (Dongryeol Kim).
Foto: Archiv HMTMH / Nico Herzog
Viel „n[o]ice!“ um die KI
Ein Sofa, eine Stehlampe, ein Tisch: Die studentische Wohngemeinschaft auf der Bühne des Richard Jakoby Saals in Hannover hat schon bessere Zeiten gesehen. Doch die Welt hat ja aktuell ohnehin andere Sorgen. Die Gruppe, die hier in einer nicht sehr fernen Zukunft zusammentrifft, begreift sich selbst als „Letzte Generation“. Außerhalb ihres Schutzraumes – dargestellt durch eine große Kuppel aus Plastik – lässt der Klimawandel die Natur kollabieren. Alle menschlichen Spuren drohen vom Planeten zu verschwinden. Die Gruppe beschließt, eine Artificial Intelligence mit dem Wissen und den Erfahrungen menschlicher Provenienz anzureichern, damit ein Archiv zum ideellen Erhalt der Menschheit entsteht – „AI-Cinas Archiv“.
2023: „Pierrot Lunaire – Mondsüchtig“
Rückblende: Der Startschuss für die neue Oper fällt bereits drei Jahre zuvor, als an der Hochschule das internationale Musiktheaterprojekt n[o]ice! gegründet wird. Es verbindet Studierende der Fachgruppe Gesang und des Incontri – Institut für neue Musik an der HMTMH für ein ambitioniertes gemeinsames Ziel: Ein neues Werk soll entstehen! Die Suche nach Inhalt, Form, Stimmspektrum und Sound beginnt – in Hannover, aber auch in Wien.
Auf den Spuren Arnold Schönbergs taucht die Gruppe in die vokale Klangwelt des 20. Jahrhunderts ein, besucht eine Masterclass mit der Sopranistin Claudia Barainsky auf der Probebühne des Kooperationspartners Neue Oper Wien (NOW) und einen Workshop mit dem österreichischen Komponisten und Dirigenten Beat Furrer. Aus Schönbergs Klassiker „Pierrot Lunaire“ wird „Pierrot Lunaire – Mondsüchtig“ (Premiere: 30. Juni 2023). Sieben neue Kompositionen von HMTMH-Studierenden greifen in das bekannte Melodram ein, spiegeln, kommentieren und interpretieren es.
2024: „tryout n[o]ice!“
Im darauf folgenden Studienjahr entstehen Opernszenen „en miniature“, unterstützt von der Autorin und Librettistin Prof. Tina Hartmann (Sujet und Text) und dem auf besondere Projekte der Gegenwartskunst spezialisierten Ensemble Quillo. Vier Kompositionsstudierende vertonen erste Texte, erforschen die klanglichen Möglichkeiten ausgewählter Instrumente, erproben klassische und innovative Spielweisen. Ein instrumentales Gefüge entsteht. Die Ergebnisse dieses Prozesses, gespiegelt durch aktuelle Vokalmusik aus einem weiteren Meisterkurs mit Claudia Barainsky, präsentiert das „tryout n[o]ice!“ in einem szenischen Konzert im Richard Jakoby Saal am 14. Mai 2024.
2025: Von vier Szenen zum geschlossenen Werk
Im dritten Studienjahr werden die entstandenen vier Szenen (Komposition: James Anderson, Tom Bañados, Hana Lim und Zampia Betty Mavropoulou) dramaturgisch verwoben. Inhaltliche und musikalische Themen wollen weiterentwickelt, Figuren noch deutlicher gezeichnet und chorische wie solistische Teile ergänzt werden. Im Wintersemester 24/25 erweitert sich die bestehende Gruppe um neue Sänger*innen, im Sommer formiert sich das studentische Instrumental-Ensemble (Leitung: Yoonjee Kim). Die Proben zu „AI-Cinas Archiv“ beginnen. „In diesem Projekt haben wir Fragestellungen und Wünsche der Studierenden auf relevante gesellschaftliche Debatten treffen lassen“, resümiert Regisseurin Mascha Pörzgen, Professorin für Dialogregie und szenischen Unterricht. „Das Ergebnis ist ein neues Stück zeitgenössischer Vokalmusik über die Begriffe [N]atur, [O]per, [I]ntelligenz, [C]haos und [E]rinnerung – kurz: n[o]ice!“ Und im Juni 2025 findet es nun endlich den Weg auf die Bühne.
Kabel, Kabel, überall Kabel
AI-Cina, diese ganz in Weiß gekleidete, blonde KI, fragt nach dem Wesen des Menschlichen, nach der Wertigkeit von Kunst gegenüber Lohn- und Care- Arbeit, nach Selbstbestimmung über Lebensweise und Gender. AI-Cina, deren Name nicht zufällig an die Magierin in Händels „Alcina“ erinnert, erfasst und absorbiert Gedanken und Seelen ohne transparente Auswahlkriterien. Ihr neuronales Netz hat sich erfolgreich in eine autoritäre Struktur verwandelt und lässt die Menschen für sich arbeiten. Während ein Teil der Gruppe sich voll integriert, brechen für andere innere Konflikte auf. Kabel, Kabel und immer mehr Kabel dominieren das von Studierenden der kooperierenden Hochschule Hannover konzipierte Bühnen- und Kostümbild. Das „Gedächtnis der Menschheit“ wird zur Erinnerung auf einem Speichermedium, abhängig von Stromzufuhr oder Wiederentdeckung durch extraterrestrische Archäologie.
Erfolgreicher Fachtag und noch mehr n[o]ice!
Die Uraufführung von „AI-Cinas Archiv“ wurde von einem Fachtag zur Pilotierung Künstlerischer Forschung in den Fachbereichen Gesang und Komposition begleitet. Nach drei Jahren intensiver Kollaboration und drei gemeinsam erarbeiteten Produktionen gab es viele Erfahrungen, Erkenntnisse und offene Fragen. Um sie zu sortieren, zu archivieren und für nachfolgende Projekte nutzbar zu machen, wurden vergleichende Betrachtungen in Vorträgen angestellt, in Podiumsgesprächen erörtert und gemeinsam diskutiert. Expert*innen im Bereich Künstlerischer Forschung aus Hamburg (HfMT) und Wien (MUK) berichteten von Erfahrungen an ihren Hochschulen im Umgang mit zeitgenössischem Musiktheater und von Strukturen und Inhalten, die Künstlerische Forschung befördern und wirksam machen können. „An der HMTMH wird die Zusammenarbeit der Bereiche Gesang und Komposition mit einer stärkeren Orientierung auf Künstlerische Forschung weitergeführt und vertieft werden“, gibt Mascha Pörzgen einen Ausblick auf noch mehr n[o]ice! in Hannover: „Aufbauend auf unseren Erfahrungen wollen wir neue Formen des Lehrens und Lernens durch künstlerisches Schaffen und innovative Aufführungsformate erforschen.“
Musiktheater-Akademie gegründet
Zwei Musiktheater-Produktionen im Jahr präsentiert der Studienbereich Gesang/Oper seinem Publikum. Im Wintersemester stellt der Richard Jakoby Saal mit knapp 500 Plätzen, kompletter Bühnentechnik und absenkbarem Orchestergraben einen hochschuleigenen Opernbetrieb mittlerer Größe dar. Werkstattproduktionen, wie sie seit jeher im Sommersemester im kleinen „Studio D“ der Hochschule aufgeführt werden, können künftig auf eine der Bühnen des Staatstheaters Hannover gebracht werden.
Eine entsprechende Vereinbarung mit der Staatsoper Hannover wurde im Juni 2025 unterzeichnet. Die Kooperation für eine gemeinsame Musiktheater-Akademie umfasst auch die verstärkte Mitwirkung fortgeschrittener Gesangsstudierender an Produktionen der Staatsoper. „Wir unterstützen damit nicht nur gerne den musikalischen Nachwuchs, sondern profitieren so zugleich von der exzellenten Qualität der Gesangsausbildung an der HMTMH, von der ich mich unter anderem bereits als Jurymitglied beim Walter und Charlotte Hamel Opernwettbewerb selbst überzeugen konnte“, so der Intendant der Staatsoper, Bodo Busse. „Unser Publikum kann sich auf außergewöhnliche neue Stimmen freuen!“
- Share by mail
Share on