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Maxime Morel spielt „H“ für Doppeltrichter-Euphonium und Vierkanal-Zuspielung von Hannes Seidl. Foto: Mirco Lilge

Maxime Morel spielt „H“ für Doppeltrichter-Euphonium und Vierkanal-Zuspielung von Hannes Seidl. Foto: Mirco Lilge

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Zwischen „Zuhören“ und „Zugehören“

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Die 78. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
Vorspann / Teaser

Unter dem Motto „zugehören“ lud das Institut für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt zu seiner 78. Frühjahrstagung in die Akademie für Tonkunst. Die Einladung formuliert eine klare Frage – nämlich „wie die Gegenwartsmusik in einer zusehends auseinanderdriftenden Gesellschaft mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und kultureller Identität umgehen kann, ohne in (exkludierende) Gemeinschaftsideologien zurückzufallen?“ Erwähnt wird eine Herausforderung „nach innen“ aus künstlerisch-ästhetischer Hinsicht – wie komponiert und musiziert man? – ebenso wie eine gesellschaftliche Aufgabe – wie wird Musik zugänglich, wie erreicht man Teilhabegerechtigkeit?

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Erstmals gibt es mit Sabdagatitara ein Ensemble-in-Residence. Der Name stammt aus dem Sanskrit und bedeutet soviel wie „Die Verquickung der Methoden, Klang zu erzeugen“. Sabdagatitara ist eine zehn Jahre alte Gründung des deutsch-indischen Komponisten und Medienkünstlers Sandeep Bhagwati (Jg. 1963), der seit 2006 als Professor im Department of Music an der Concordia University im kanadischen Montreal lehrt. Außer Bhagwati umfasst die Gruppe derzeit zehn Mitglieder unterschiedlicher kultureller Herkunft mit unterschiedlichen Instrumenten und unterschiedlicher vokaler Tradition. Die gemeinsame Arbeit umfasst die Suche nach neuen Klangsprachen, im Einzelfall auch die Aneignung einer ursprünglich fremden Tradition. Ensemble-Mitglied Sören Birke etwa beherrscht nicht nur die Mundharmonika, sondern hat sich auch mit der asiatischen Duduk und verschiedenen Maultrommeln vertraut gemacht. Überhaupt zeigen die Ensemblemitglieder ein Grenzgängertum, das die herkömmlichen Zugehörigkeitskriterien zu transzendieren sucht. Beim Abschlusspodium zitiert Bhagwati aus einer Art poetischem Manifest, das er 2018 in englischer Sprache aufgesetzt und für den Vortrag ins Deutsche übersetzt hat. „On Native Aliens“ heißt es und handelt von jenen Menschen, die als „ungebundene Vagabunden“ („global vagrants“) durch die Welt ziehen (müssen), sich in vielen Kulturen zu bewegen wissen, aber in keiner vollständig zu Hause und daher immer auf der Hut sind. Ein solcher Mensch bleibe letztlich einsam „wie der nüchterne Gast, der mit seinen fröhlich trinkenden Freunden feiert und Spaß dabei hat, aber doch ständig auf dem Sprung ist, das Fest zu verlassen, wenn die Stimmung umschlägt.“ Dass derartige Gefühle einen sensiblen Menschen unabhängig von Nationalität und Heimat treffen können, dafür legte schon vor fast 200 Jahren Franz Schuberts Liederzyklus „Die Winterreise“ Zeugnis ab. Dennoch spiegelt sich ausgesprochen oder unausgesprochen in vielen Beiträgen dieser Tagung die Erfahrung, dass in unserer Gesellschaft zunehmend eine „Ich-Dominanz“ greift, „die nichts mit Entwicklung zu tun hat, sondern mit der bloßen Tatsache, an einem bestimmten Ort geboren zu sein.“(So die treffende Formulierung aus der neuen Staatstheater-Saisonbroschüre im benachbarten Mainz.) Natürlich beschränkt sich diese Tendenz nicht auf Deutschland. Zwei weitere Grenzgänger bereichern den Horizont durch scharfe Analysen. David-Emil Wickström, Professor an der Pop-Akademie in Mannheim, ist ein Musikethnologe norwegisch-jüdischer Herkunft, der in St. Petersburg und New York Feldforschung betrieben hat und nun zeigt, wie im Ukraine-Krieg über Musikvideos Abgrenzung und Propaganda betrieben werden – allerdings kaum über die Musik als solche, sondern durch Text und Inszenierung. Julio Mendevil, Musikethnologe peruanischer Herkunft und nach langem Deutschland-Aufenthalt derzeit Professor an der Universität Wien, berichtet vom grotesken Streit über den Charango als (wahlweise) peruanisches, bolivianisches, argentinisches oder chilenisches Nationalinstrument und demontiert nebenbei noch die Legende vom Gürteltier-Panzer als ursprünglichem Resonanzkörper.

Die Perspektive, dass Musik nicht nur „Zugehörigkeit“ und Ausgrenzung markieren, sondern über das „Zuhören“ auch persönliche, gesellschaftliche und nationale Grenzen überwinden kann, klingt nicht nur im beliebten Wortspiel mit dem Tagungsmotto an, sondern wird auch in zahlreichen Beiträgen deutlich: Sarah Chaker (Wien), Renate Reitinger (Nürnberg), Günter Meinhart (Graz), Christine Löbbert (Freiburg), Alicia de Bánffy-Hall (Düsseldorf) und Hüseyin Köroglu (Darmstadt) entfalten in lebendigen Vorträgen und Gesprächen ein vielseitiges Panorama dessen, was man im weiteren Sinn unter den englischen Begriff „Community Music“ fassen kann. De Bánffy-Hall nennt es akademisch eine „interventionistische Praxis“, der Praktiker Köroglu fragt schlicht: „Wie kann ich mit den Leuten arbeiten, die da sind?“ Aufgeschlossenheit und Neugier prägen das Gesprächsklima bei Nachfragen und in den Pausen. Als am dritten Abend in Darmstadt ein langjähriger Teilnehmer verwundert feststellt, es sei noch kein einziges Mal der Name Adorno gefallen, hat sich die Ankündigung von Institutsleiter Robin Hoffmann bestätigt, man habe Einladungen ausgesprochen „an Bereiche, mit denen wir noch keine Schnittmengen hatten“.

Am Samstagmorgen zitiert Sandeep Bhagwati die Vaterfigur Adorno dann doch noch – und zwar als Anwalt eines idealen Rezipienten, der Musik nicht zur Selbstbespiegelung braucht oder als „echt“, „autonom“ oder „authentisch“ etikettiert, sondern aktiv hörend auf Entdeckungsreise geht. Das Publikum der Tagung nutzt solche Gelegenheiten. Die ungewöhnlichen Kompositionen von Manuela Kerer für Zither und von Hannes Seidel für Tuba solo stoßen auf großes Hörer-Interesse, aber auch Gabriel Dharmoos Video-Performance „Anthropologies imaginaires“, das Jazzduo Cansu Tanrikulu und Nick Dunston und Sabdagatitara selbst. Aber wie kommt man aktiv ins „trans-traditionelle“ Musizieren? Beim Schulmusik-Workshop mit dem Ensemble zeigt Bhagwati einen bewährten Kunstgriff: Jeder der anwesenden Hörer wird aufgefordert, eine akustische Situation aus seiner Kindheit zu skizzieren. Diese Skizze dient dann als Grundlage für eine Gruppen-Improvisation – außerhalb der üblichen Komfortzone, der Routinen, kulturellen Zuschreibungen und Klischees. Eine solche Eisbrecher-Übung helfe, „dass wir uns als Menschen begegnen“. Auf dieser Erfahrung könnte man aufbauen – gerade in der Institution Schule, wo angesichts der Krise des Musikunterrichts ohnehin neue Wege angezeigt sind. Nur sind leider schulische Lehrkräfte bei dieser aufschlussreichen Tagung besonders schwach vertreten.

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