Die Angst geht um! Der Abgrund gähnt: in Gelsenkirchen! In Frankfurt! In Stuttgart! In Wolfsburg! In Mönchengladbach! Einigen verschlägt’s den Atem, einige taumeln, einige befinden sich schon im freien Fall. Die Todeskandidaten suchen nach lebensrettendem Halt. Sie sind nur wenige Punkte vom Abstieg in die Zweite Fußball-Liga entfernt. In höchster Not entlassen sie ihre Trainer und kaufen wie besinnungslos neue. Angst treibt das Geschäft. [aus nmz 4/2011]
Andernorts kaufen die Leute wie besinnungslos Geigerzähler. Nicht in Japan, wo sich die atomare Verseuchung täglich ein wenig mehr ausbreitet, sondern in Deutschland. Man muss doch wissen, ob man morgen Abend seine Sushis noch in Ruhe verzehren kann! Kann man jetzt noch eine Sony Play Station kaufen? Tickt nächste Woche vielleicht schon der ganze Garten?
Auch hier treibt die Angst das Geschäft. Angeheizt wird es durch die immer gleichen Korrespondentenberichte, die mangels konkreter Informationen zur Hälfte aus Vermutungen und Spekulationen bestehen. Aus diesem Stoff, garniert mit den Schwarzmalereien hiesiger Experten, basteln die Redaktionen dann ihre Stories. Mit gut einstudierter Besorgnis verkündet uns ein Kommentator, dass wieder einmal Rauch aus Reaktorblock 3 aufgestiegen sei und in Reaktorblock 6 die Brennelemente unter freiem Himmel vor sich hin dampften. Schnitt: Im Hintergrund dampfen die Brennelemente vor sich hin. Dann erscheinen Demonstranten mit Protestplakaten in deutscher Sprache. Schnitt: Im Hintergrund brütet das AKW Gundremmingen unheilschwanger vor sich hin. Es ist zwar nicht in die Luft geflogen, aber der verängstigte Zuschauer ist nun überzeugt, dass es als nächstes dran ist. Die Bilder beweisen es doch! Am Ende des Tages setzen die Talkshow-Damen der Spekulation mit der Angst das Sahnehäubchen auf, indem sie ihren Gästen die beliebte Suggestivfrage stellen: „Wie groß ist jetzt ihre Angst?“ Man darf dreimal raten, wie die Antwort ausfällt.
Aber gab es da nicht auch noch einen Tsunami, verwüstete Städte und Tausende von Toten? Richtig. Doch damit werden die Japaner sicher klar kommen, die sind nicht so empfindlich wie wir und machen ja sogar Harakiri. Außerdem heißt es, sie seien an Umweltkatastrophen gewöhnt. Viel Erfolg beim Aufräumen! Unsere echte Sorge hingegen gilt unserem Gemüsegarten. Ich, ich und ich sind ernsthaft in Gefahr. Ich bin betroffen. Und je stärker das Leitungswasser in Tokyo kontaminiert ist, desto ungehemmter bade ich in Angst. Überall lauert das Atom.
Unsere Angstkultur steht in merkwürdigem Gegensatz zur Haltung der Japaner selbst, die sich mit bewundernswürdiger Fassung dem Unglück stellen. Sind die Mitteleuropäer vielleicht zu egozentrisch? Darüber mögen die Sozialpsychologen und Kulturgeschichtler räsonieren. Wir wollen hier nur einmal kurz auf die Musikgeschichte blicken. Wo gilt Angst als Tugend?
Sicher nicht in der Oper. Im Gegenteil, die ganze Operngeschichte wimmelt von Gestalten, die die Angst verachtet haben, von Orpheus über Siegfried bis zur Tosca. Sie wurden früher auch als Helden bezeichnet. Das ist heute für einige ein Schimpfwort. Für die meisten Menschen sind sie aber Identifikationsfiguren geblieben, wie Filmhelden und Popstars. Und die Arbeiter in Fukushima Dai-Ichi.
Einen Volltreffer in Sachen Angst landet man hingegen bei Schönberg: Seine Selbstporträts, gelbe Gesichter mit weit aufgerissenen Augen, und der hysterisch überdrehte Ausdruck in „Erwartung“ sind Ikonen der frühen Moderne. Doch ihre Aussage ist begrenzt. Ihre Gefühlslage mag charakteristisch für den Expressionismus sein, der sich im Umfeld des Ersten Weltkriegs ausbreitete; ob sie als stabiles Fundament einer Kultur taugt, darf hingegen bezweifelt werden. Am schönsten hat Mozart die Angst dargestellt, etwa bei Leporello oder Papageno. Ihr Schlottern angesichts echter oder eingebildeter Gefahren lässt die furchtlose Haltung des Helden in umso hellerem Licht erstrahlen. Sie werden von Mozart aber nicht verächtlich behandelt – er gibt auch ihnen eine Chance, im Rahmen ihrer Möglichkeiten menschlich zu handeln und ihr kleines Glück zu finden. Wenn in der Schlussszene des „Don Giovanni“ der virtuose Opportunist Leporello sich aus Angst vor der übernatürlichen Erscheinung des Komturs unter dem Tisch verkriecht, dann wirkt das komisch, aber nicht unsympathisch. Er möchte ja nur überleben, und in dieser Situation ist für ihn, den Underdog, ein kleines bisschen Feigheit zweifellos erfolgversprechender als vorschneller Heldenmut. Doch wenn sich, wie das gegenwärtig angesichts der keineswegs übernatürlichen Erscheinung der Atomkraft geschieht, eine ganze Gesellschaft vor lauter Angst unter dem Tisch verkriecht, dann wirft das kleine bisschen Feigheit des Leporello plötzlich ziemlich lange Schatten.