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Liebespaar

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Beim Festival „Klangspuren Schwaz“ gab es eine Pilgerwanderung entlang eines (winzigen) Teils des weit verzweigten Jakobsweges. Es war eine Tageswanderung mit Stationen in Kirchen oder Kapellen, die den Pilgern schon immer zur Einkehr dienten. Dort wurde zeitgenössische Musik in kurzen, halbstündigen Konzerten geboten, den Abschluss bildete schließlich ein großes Chorkonzert.

Viele Menschen gingen mit, die der Neuen Musik bislang weitgehend skeptisch gegenüberstanden. Darüber in einem Interview befragt, äußerte ich (für mich selbst ein wenig überraschend): „Der aufrichtige, neugierige Mensch heute und die zeitgenössische Musik sind im Grunde ein Liebespaar, bei dem jede Seite von der anderen annimmt, sie würde sie nicht lieben.“ Das ist in der Tat eine fatale Situation, denn es verhindert den ersten Schritt der Annäherung. Und wirklich hat man in den letzten Jahrzehnten Barrieren aufgebaut, die auf die Urteile der Hörer „Die elitäre Neue Musik will uns nichts mitteilen“ oder des Lagers der Zeitgenossen „Die stumpf gemachten Menschen wollen uns nicht hören“ hinausliefen. Das aber sind Positionen der Härte, die, wie auch in vielen politischen oder ideologischen Begegnungen der Menschen, Kontakt gleich im Entstehen unterminieren.

Daraus entwickelt sich nicht selten eine Eigendynamik. Jedes Lager, im Bewusstsein, dass das andere ohnehin nicht zu erreichen sei, formuliert seine Positionen noch um einige Grade schärfer, vielleicht zynischer. Der Graben wird noch vertieft. Doch es gibt die Chance, Vertrauen wieder aufzubauen (die Pilgerwanderung wäre eines von derzeit glücklicherweise vielen Beispielen). Denn natürlich sitzen wir fast alle in einem Boot (die Vertreter rein profitorientierter Interessen, die Umweltvernichtung, Hunger oder Kriege kalt einkalkulieren sitzen in einem anderen). Da aber ist es gut und von Nutzen, wenn man sich gegenseitig mit den eigenen Stärken unterstützt.

Lange verstellten technisch verbrämte Argumente den Blick. Es waren aber nicht die Dissonanzen, die Geräusche, die strukturellen Härten, die den neugierigen Hörer abschreckten. Es waren die Defizite auf der inhaltlichen Seite der Musik. Hören ist eine komplexe Sache und das Ohr lässt sich gerne auf alles ein, wenn die Ahnung aufkommt, dass dem Individuum Wesentliches über seine Existenz erzählt wird. Immer schon tat dies große Musik (die sich eben nicht im Technischen verspielte) und baute dadurch die auf einer gewissen Behäbigkeit ruhenden Ressentiments ab.

Sind die Inhalte klar und gewichtig (also nicht auf kalter formaler Struktur oder auch einfach auf Entertainment begründet), dann wächst auch die Bereitschaft, das Mitgeteilte aufzunehmen oder besser zu vernehmen – die Kühnheit der sprachlichen Mittel ist dann kein Hindernis, sondern wird als notwendig erkannt und willkommen geheißen. Die Chancen hierfür wachsen, auf der Seite der Musikschaffenden wie auf der Seite der Hörer. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dem Liebespaar die letzten Hemmungen zu nehmen.

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