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Theo Geißler. Gemälde von Anneliese von Markreither. Foto: Theo Geißler

Theo Geißler. Gemälde von Anneliese von Markreither. Foto: Theo Geißler

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Theos Kurz-Schluss: Wie ich einmal begann, vom vermeintlichen Anfang ins Ende zu schlittern – eine Offenbarung

Vorspann / Teaser

Sie werden es nicht glauben: Sogar ein klarer vernunftgeprägter Geist wie der meinige gerät gelegentlich aus den Fugen. Und das kam damals so: Vor unserem von mir bevorzugten Discounter namens Lidl stand meist ein Obdachloser, der für ein wenig Bares die Obdachlosenzeitung verkaufte. Selbstlos aus purer Nettigkeit gab ich ihm immer einen Euro, ohne die Zeitung anzunehmen. Na ja, eigentlich war ich mir sicher, dass dieser Gnadenakt mir Glück brachte. Gestern kam alles anders: 

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Der Zeitschriftenmann warf mir meinen Euro vor die Füße und ein paar zusammengetackerte Seiten Papier mit hypnotischem Blick in die Hand. „Lesen, sofort“, blaffte er mich drohend an – und war verschwunden. Verwirrt setzte ich mich in meinen VW-Last-Edition (ein Sonderangebot), wollte eigentlich losfahren, warf dann doch einen Blick auf die Seiten. „Autoradio an und Radio Maria einschalten!!!!“ stand da in 30-Punkt-Schrift. Ich drückte auf den Touch-Screen und wunderte mich nicht schlecht, als sofort eine Glockenton-Senderkennung losdröhnte und eine Stentorstimme im Oberleutnantsbefehlston donnerte: „Verteile, was ich jetzt sage, auf Facebook, LinkedIn und TikTok, unverzüglich.“ Flugs wandte ich mich um, weil ein Mann die Seitentür meines VW aufriss, sich in den Beifahrersitz fläzte und zu mir sprach. „Klappe, und mach, was ich dir befehle.“ Spooky! Er war bekleidet mit einem Titan-Gewand bis auf die Füße, und um die Brust trug er einen Antimaterie-Patronengürtel. Aus seinem Mund kam statt einer Zunge ein scharfes zweischneidiges Schwert, und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne. Als ich ihn sah, fiel ich kurzfristig in Ohnmacht. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und nebenbei der Lebendige. Ich verrate dir das Geheimnis der sieben Sterne, die du auf meiner rechten Hand gesehen hast, und der sieben goldenen Satelliten am Nachthimmel: Die Satelliten dienen der Lokalisierung der sieben Oberfaschisten, und die sieben Sterne sind Navigationskoordinaten für die ersten Armageddon-Städte, die wir plattmachen. Da sah ich in einem SUV, der neben mir parkte, vier offensichtliche Oktopusse mit einem Lamm; es sah aus wie geschlachtet und hatte sieben Hörner und sieben Augen. „Die Augen sind die sieben Straf-Bomben, die über die ganze Erde ausgesandt sind“, raunte der Offizier. Er öffnete seinen Integral-Helm, und ich hörte ihn mit Donnerstimme rufen: „Komm!“ Da sah ich ein weißes Stahlblech-Pferd. Ein Plakat entrollte der goldene Reiter mit der Aufschrift: „Fall um und modre.“ Der vermutliche Offizier rief: „Aufrücken!“ Da erschien ein anderes Robot-Pferd vor meiner Windschutzscheibe. Auf ihm saß ein glitzernder Android mit einem Lasergewehr. Er hatte eine Bazooka und schrie, er sei ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm eine Kalaschnikow aus dem Nichts zugeworfen. Dann hörte ich einen Leopard-3-Panzer heranrasseln. Auf seiner Flanke stand: Tod. Dank seiner Nuklearbewaffnung hatte er die Macht, alles Leben auf über ein Viertel der Erde zu töten. 

Und schon begann ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand, und der Mond nahm die Farbe stockenden Blutes an. Asteroiden fielen aus Richtung Venus herab auf die Erde, wie eine deutsche Eiche ihre Blätter abwirft, wenn ein heftiger Sturm sie schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt. Und die Putins und Trumps, die Reichen und die Mächtigen, Beamten und Freiberuflichen verbargen sich sinnlos in Bunkern. Die Erde tat sich auf wie einst in Island. Vulkane spien, auch ausgelöst durch Wasserstoffbomben aller Nuklearwaffen besitzenden Regime der sterbenden Welt. Es fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land. Es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras. Etwas, das einem großen brennenden Berg glich, schien ins Meer geworfen. Die Hälfte des Meeres wurde zu Blut. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um. Dreiviertel der Schiffe wurden vernichtet. Dann fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf Flüsse und auf die Wasserquellen. Die Substanz des Sterns ist Ecstasy, Kokain, Alkohol, Coca-Cola und Big-Mac. Ein Drittel des Wassers wurde zu stinkendem Hackfleisch, und viele Menschen starben durch den widerlichen Brei. Ein Riesen-Asteroid: Es wurden ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, sodass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und ebenso die Nacht. Ein dänemarkgroßer Adler flog hoch am Himmel und krächzte mit lauter Stimme: Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde! Erneut tat sich die Erde auf und öffnete den Schacht des Abgrunds. Da stieg Rauch aus dem Schacht auf, wie aus einem großen Ofen, und Sonne und Luft wurden verfinstert durch den Rauch aus dem Schacht. Aus dem Rauch kamen Heuschrecken über die Erde, und ihnen wurde Gift-Kraft gegeben, wie sie Skorpione auf der Erde haben. Sie sollten dem Gras auf der Erde, allen grünen Pflanzen und allen Bäumen keinen Schaden zufügen, sondern nur den Menschen, die das Siegel der Humanitas nicht hinter der Stirn haben. Sie empfingen ein Signal aus dem All, die restlichen Menschen nicht zu töten, sondern nur zu quälen, fünf Monate lang. 

In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber nicht finden; sie werden sterben wollen, aber der Tod wird vor ihnen fliehen. Und die Heuschrecken sehen aus wie Raketen, die zur Schlacht gerüstet sind; auf ihren obersten Stufen tragen sie etwas, das goldschimmernden Kränzen gleicht, und ihre Bemalungen sind wie Gesichter von Menschen, ihr Düsenschweif ist wie Frauenhaar, ihre Waffen wie ein Löwengebiss, ihre Mittelstufen wie ein eiserner Panzer; und das Rauschen ihrer Stummel-Flügel ist wie das Dröhnen von vielen tödlichen Sprengköpfen, die sich zum Schlachten in die Restmenschen stürzen.

Ich war wohl kurz eingenickt. Neben mir saß niemand mehr. Allerdings stand die Beifahrertür weit offen. Deshalb klang das Jaulen der Sirenen, als säße ich in ihrer Mitte.

Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur