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Foto: Matthias Rietschel
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Coming-Out am Originalschauplatz: Ludger Vollmers Oper „Tschick“ in Radebeul

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Ein Gastspiel der Landesbühnen Sachsen mit Ludger Vollmers Oper „Tschick“ wird es auch im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden geben, wo der Siegeszug von Robert Koalls Bühnenfassung des Romans begann. Schon im letzten Takt bricht bei der ersten Produktion nach der Uraufführung 2017 in Hagen der Jubelsturm los. Dem Erfolgsroman von Wolfgang Herrndorf, dem in die Dauerturbulenzen seiner eigenen Musik verliebten Ludger Vollmer und auch der leicht ironischen Filmstilisierung Fatih Akins kontert Operndirektor Sebastian Ritschel mit Blicken auf Wesentliches und Hintergründiges. Dabei streut er vorsätzlich ein paar Reißnägel in die Coming-of-Age-Story: Spannend, schön, nachdenklich.

So glatt läuft der Roman nicht: Tschick, „Russe“ und, wie er sich nennt, „jüdischer Zigeuner“, kommt nach dem Unfall mit dem gestohlenen Lada ins Heim. Die Librettistin Tiina Hartmann lässt aus, dass der wohlstandsverwahrloste Maik Klingenberg mit seiner Mutter in einem Anfall von Selbstbefreiungsvandalismus ihre Luxusbude kleinschlägt. Kein Wunder bei so einem so korrupten und aschgrauen Familienvater, der Hagen Erkrath hier sein muss… In Fatih Akins Film ist das ein befreiender Höhepunkt, am Ende der Oper jedoch lauscht Maik selig den inneren Stimmen aus der geilsten Woche seines Lebens. Ein verklärender Rahmen gewiss, aber was bleibt?

Die Flucht von Maik und Tschick aus Berlin-Marzahn Richtung Walachei endet mit einem Crash, den man sich im Wirkungskreis der Sächsischen Landesbühnen denken muss. Bei den Begegnungen der vierzehnjährigen Ausreißer mit Einheimischen gibt es in Roman, Film und Oper durchaus Momente von Sozialsatire, die Sebastian Ritschel mit seinem wunderbaren Radebeuler Ensemble in dunkelbunter Ausstattung und weich stilisiert: Die Rentner-Gang beim Wandern mit Stöcken über Steine, die pastorale Bildungsdemokratie lebende Familie Friedemann und ein bizarrer Urkommunist, den Peter Koppelmann zur Bravournummer für Charakterdarsteller macht.

Das wird nicht zum Schwank, denn Tschick und Maik finden hier gar nicht aus dem Moloch Berlin und dessen graffitiverkleisterten Mauern heraus. Der gestohlene Lada ist in Radebeul ein neonfarbiger Autoscooter, in dem sich die mit ihren Lederjacken und Trendfrisuren einander sehr ähnlichen Alltagsflüchtigen die zu kurze Wunderwoche basteln. Maik und Tschick finden das wahre Leben im falschen. Sebastian Ritschel vergisst in keiner der 29 kurzweiligen Opernszenen die von Wolfgang Herrndorf manisch beschworene Sehnsucht nach Phantasie und ihrer Macht. Deshalb bleiben die vielen Episodenfiguren auf diesem Rummelplatz berstender Träume an der musicalhaften Oberfläche. Die balsamischen Worte des Richters (die erkältungsbedingte minimale Rauheit von Paul Gukhoe Song intensiviert das) spülen kreativitätstötende Disziplinierungsmaßnahmen seidenweich.

Ludger Vollmers Oper hat künstlerische Berechtigung, weil er die Aussage seines Sujets verschiebt und für das Timing seiner Musik zurechtstutzt, also Eigenes ins preisgeadelte Sujet bringt. Dabei muss man nicht unbedingt sein dramaturgisches System verstehen – ob er mit seiner Musik die Figuren meint, das Milieu oder die dramatische Situation. Die stimmenreich vertrackte und rhythmisch hypertrophe Instrumentation wird von den melodisch wie deklamatorisch reichlich bedachten Sängern ohne Mikroports nicht bewältigt. Die Mixtur von Rap bis Schlager und viel Deklamation à la Kurt Weill schwellen an zu Ozeanen aus atomisierten Zitaten und deren Transformationen. Oft gewinnen sie sinnige Eigenwerte, was die charakterisierenden Klamotten des Spiels sinnfällig verdichten.

Wie schon in „Lola rennt“, für die Ludger Vollmer die vertrackten Zeitstrukturen in antiperiodischen Sätzen knackte, springt ein langer Block aus der komponierten Zeit: Die freakige Isa – etwas dirty, etwas crazy – muss einfach abräumen wie hier die sensationell sichere Kirsten Labonte. Sie bewältigt den Part für mit den besten Eigenschaften von Patti Smith, Nina Hagen und Diana Damrau. Da schwingt sich die Oper „Tschick“ zum musikdramatischen Sahneschnittchen hoch. Hier endlich finden Hans-Peter Preu und die mit aller Breite und Lust ausfahrende Elbland-Philharmonie Sachsen Punkte des etwas sanfteren Innehaltens. Man lasse es bei der nächsten „Tschick“-Reprise darauf ankommen: Vollmers Partitur wird zu stark auf Rap- und Balladen-Völlerei konzentriert, hinter diesen Klangfarben steckt wahrscheinlich noch anderes. Ein geheimer Protagonist ist der Chor der Landesbühnen mit kräftigem Personalzuwachs aus dem Freien Opernchor Sachsen und vor allem dem Jugendchor des Gymnasiums Coswig: Eine Gruppe aus der Wohlfahrtszone spielen sie unter anderem und es ist, glaubt man anwesenden Bildungsreferenten, durchaus realistisch, dass in einer Klasse bis zu sechs verschiedene Geburtsjahrgänge zusammen gepresst um ihre Lernziele wetteifern.

Aller Diversifizierung zum Trotz kommen in „Tschick“ die Frauen aus eindeutigen Schubladen und die feinen Sängerdarstellerinnen posieren dazu freudig: Maiks Mutter mit Kleid und Glasinhalt im gleichen Farbton ihres alkoholisches Dauerdeliriums (Stephanie Krone), das silberglitzernde Flittchen seines Papas (Teresa Suschke-Kaden) und die „pornoechte“ Mitschülerin Tatjana (Johanna Haisch). Aber das ist eh ein Männerstück, das vom Komponisten durch den Chorprolog auf Christian Morgensterns Poem „Die zwei Parallelen“ noch sensitiver aufgeschlagen wird, auch wenn man in Radebeul auf Tschicks großes Coming-out-Solo wohlüberlegt verzichtet.

Der Haupttrumpf steckt in den beiden Gästen, die Tschick und Maik eben nicht zum grundfalschen „Hänsel-und-Fränzel“-Duo herunter brechen. Die beiden JunX vom obersten und untersten Gesellschaftsrand spielen auf ganz anderen Klaviaturen als denen von Prinz und Bettelknabe. Den lyrischen Fast-noch-Knabenbariton Johannes Leuschner (Maik) und den eine Spur reiferen Bassbariton Michael Zehe (Tschick) vereint weitaus mehr als was sie trennt. Bei den langen Fahrten im Autoscooter, Symbol pubertärer Sehnsüchte und Spannungen, lagert Sebastian Ritschels Inszenierung mindestens drei Atmosphären übereinander: Fluchtgedanken und Abenteuerlust, langsam wachsendes Vertrauen, Einigkeit. Nur daraus erwächst die erotisch-emotionale Nähe Maiks und Tschicks zueinander, wirkt nur deshalb so berührend. Das ist den Darstellern bewusst, wird durch Johannes Leuschner und Michael Zehe glaubhaft. Mit diesem sympathischen Duo erbringen die Landesbühnen Sachsen einen plausiblen Beweis für die Tragfähigkeit von Vollmers Oper. Vor allem, weil sie sich von nicht von Einwänden gegen die Glätten von Sujet und Partitur vereinnahmen lassen: „Tschick“ ist in Radebeul ein bejahendes, beglückendes, erlebnisreiches Stück Musiktheater.

  • Wieder am So 21.01./19:00, Do 25.01./11:00, Di 30.01./11:00, Fr 02.02./19:30, Fr 16.03./19:00 (Freital, Kulturhaus), Do 03.05.18 (Dresden, Kleines Haus)

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