Ein grauenhafter Sommer schließt die Pforten, ein rabiater Winter naht und die letzten vorweihnachtlich ernst zu nehmenden Veröffentlichungen (ohne Best-of-Charakter) drängen in den dreigeteilten BMG-Markt zwischen Armen-, Mittelstands- und Reichen-CD.
Politisch wütend tragen R.E.M. ihr 13. Studioalbum fast zur US-Präsidentenwahl in die Welt. Sänger Michael Stipe macht aus seiner Verbitterung keinen Hehl. Obwohl die 13 Songs spartanisch im Instrumental-Sinn bleiben, wehmütig mahnen und selten die Spaßbremse lösen, erwirken R.E.M. einen enormen Wiedererkennungsfaktor und Beschäftigungsdrang. Perfekte Musik ohne Zweifel. Lauter, brutal und den Finger wissend in die Wunden legend präsentieren Green Day ihren „American Idiot“. Eine Punk-Oper, ein Maßstab für alle Punk-Fraktionen dieser Welt. Green Day bieten knallharte Politik, Beach Boys-Sound und ein Konzeptalbum in versteckten Akten vom barbarischen Punk bis zur kaltblütigen Endzwanziger-Hymne mit Unterhaltung im politischen Musik-Kabarett. Unverzichtbar gut. Über die Talking Heads ließe sich ausschweifen, auch über deren Ex-Vordenker David Byrne und dessen schwer verdauliche Solo-Soße. Aber: die Talking Heads sind vorbei und nicht unberechtigt freut man sich so über eine Best-of-Kompilation mit 18 hörenswerten Liedern. Die 17-jähige Engländerin Joss Stone sorgte vor einem Jahr mit „The Soul Sessions“ für Furore. Die begnadete Sängerin mit der knödelnden, schwarzen Soul-Stimme verzauberte Millionen – allerdings mit einem Cover-Album. Nun heißt es aber das richtige Debüt der Engländerin zu verkünden. „Mind, Body & Soul“ lässt sich leider nur als Sensation bezeichnen und kopfschüttelnd die Frage stellen, woher sie diese Emotion nimmt und welch göttliche, (zusammen mit einem Songwriter-Team) geschriebene Soul-Nummern (mit leichtem Rock) hier zu hören sind. Groß darf sich Nancy Sinatra nennen. Ihr neues Album (es schrieben unter anderem Morrissey, Jarvis Cocker, Pete Yorn, Bono) zeigt eine stilistische Breite der Nancy Sinatra, die sich unter dem Begriff Pop sammelt. Folk, Americana, mexikanische Trompeten, Blues, Rock ’n’ Roll zerfließen bei ihr zu einer Glut, die in dieser Qualität unlöschbar brennt. Ganz groß!
Unbefangen zeigen sich die Bananafishbones live aus dem Bad Tölzer Kurhaus. Neues Material ergänzt sich mit den Allzeit-Favoriten der Band, die witzig, charmant und mit unerwartet spritzigen Akustik-Ideen ihre Platte „Live & Unplugged“ per Kurkonzert annonciert. Ja, Bad Tölz kann bluesen. Tom Poisson nennt sich ein französischer Liedermacher. Und er spielt bei seinem Debüt „Fait Des Chansons“ selbige in unaufdringlicher Manier. Wolkig bedauert er mit einer latenten Moll-Note den Lauf der Welt und gefällt mit unausgelatschten Chanson-Pfaden. Der neue Wim Wenders-Film „Musica Cubana“ (ab 23. September 2004) lässt sich mit der Filmmusik-CD noch einmal zu Hause nacharbeiten. Diesmal sind es die jüngeren Musiker, denen sich Wenders gewidmet hat. Das Pendant zum Erfolg gekrönten „Buena Vista Social Club“. Macht Laune diese Filmmusik zu hören.
Seit 30 Jahren existiert „The Irish Folk Festival“, die Jubiläumstour 2004 steht vor der Tür und unter dem Motto „Celtic Legends“. Vorab gibt es das Tour-Album mit den Hauptakteuren der Tour (unter anderem Ian Smith & Stephen Campbell) zu hören. Keltisch geprägt aber Insel-melancholisch dargeboten. Wahre Helden eben. Eine Tragik der Popmusik bleibt der Tod des 34-jährigen Songwriters Elliott Smith. Das Album „Songs from a Basement on the Hill“ war fast fertig, als er starb, sein Weggefährte Rob Schnapf vollendete nun die Arbeiten. Liebende Indiemusik mit Folkmomenten sowie kaum greifbaren, weil schönen Texten dürfte den Kreis für alle Smith-Bewunderer schließen. Traurig und untröstlich. Jaques Loussier wird Ende Oktober 70 Jahre. Gefeiert wird mit „Impressions of Chopin’ Nocturnes“, das Loussier (ohne Trio, nur mit Piano) in spontanen, aber altqualitativen Interpretationen der chopin’schen Werke zeigt. Das Elektro-Pop-Frauenduo Client debütierte 2003 mit „Client“. Der Nachfolger „City“ macht dort weiter, wo man einst stoppte. Düster elektronisieren sie die Achtziger-Beats der synthetischen Art, lassen ihre Gesangsphrasen als Art Verkündung im Raum stehen und wissen so einen eigenen Sound zu etablieren. Warum eigentlich nicht? Eine verrückte Band sind Clann Zù aus Australien beziehungsweise Irland. Ein Fass voll Musik zwischen keltischen Eingaben, elektronischen Abgeriegeltheiten und wüstenarmem Folkrock vermengen sie zu teils Pulsadern-schweren Fastbegräbnissen oder ausrastenden Rockfragmenten. Bravouröse Gratwanderung. Der kubanische Pianist Bebo Valdés und der spanische Flamenco-Star Diego el Cigala ziehen ein Feuerwerk auf ihrem Album „Lágrimas Negras“ ab. Anrüchiger Flamenco, ungezügelter Jazz und rigorose Latinmusik heben sie einem bisher kaum gehörten Charme unter. Ein vielfach ausgezeichnetes Album, das dennoch unkommerzig bleibt. Die kanadische Songwriterin k.d. lang verwirklicht sich einen Traum: Ihr kanadisches Songbook ist mit „Hymns of the 49th Parallel“ vollendet. Sie zollt den einflussreichen Vorbildern ihrer Heimat Tribut. Dabei unter anderem vielen fälschlicherweise für Amerikaner gehaltenen Künstlern wie Neil Young, Ron Sexsmith, Joni Mitchell oder Leonard Cohen. Emphatisch und mit profunder Traurigkeit.
Diskografie
• R.E.M.: Around the Sun (4. Oktober 2004, Warner)
• Green Day: American Idiot (seit 27. September 2004, Warner)
• Talking Heads: The Best of (18. Oktober 2004, Sire Records)
• Joss Stone: Mind, Body & Soul (seit 27. September 2004, Virgin)
• Nancy Sinatra: Nancy Sinatra (4. Oktober 2004, Sanctuary Records)
• Bananafishbones: Kurkonzert. Live & Unplugged (4. Oktober 2004, Südpol records)
• Tom Poisson: Fait Des Chanson (seit 13. September 2004, Axel Record)
• V.A.: The Irish Folk Festival (4. Oktober 2004, Magnetic Music)
• Elliott Smith: Songs from a Basement on the Hill (18. Oktober 2004,
Domino Records)
• Jaques Loussier: Impressions of Chopin’ Nocturnes (25. Oktober 2004, Telarc)
• Client: City (seit 27. September 2004, Toast Hawaii/Mute)
• Clann Zú: Black Coats & Bandages (4. Oktober 2004, G7/MMS)
• Bebo & Cigala: Lágrimas Negras (seit 13. September 2004, BMG)
• k.d. lang: Hymns of the 49th Parallel (seit 27. September 2004, Warner)