Das Podium Gegenwart des Deutschen Musikrats veröffentlicht seit 1986 im Rahmen der Edition Zeitgenössische Musik (EZM) jährlich bis zu vier Porträt-CDs von in Deutschland lebenden Komponistinnen und Komponisten. In Koproduktion mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, vor allem Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur, werden deren Werke eingespielt und im Label WERGO veröffentlicht. Bisher sind 123 CDs mit ausführlichen Porträttexten erschienen. In Ausnahmefällen wurden sie durch DVDs, etwa bei Annesley Black, Johannes Kreidler oder OndÅ™ej Adámek, wenn sich die Musik rein hörend nicht erschließt. Auch die EZM-Website zeigt immer mehr Videos audiovisueller Stücke von Yiran Zhao, Sergej Maingardt, Huihui Cheng, Tobias Klich, Elnaz Seyedi und anderen.
Das jüngste EZM-Porträt ist Ricardo Eizirik gewidmet.
Musik machen, hören, sehen
Die meiste Instrumental- und Vokalmusik ist bei Live-Aufführungen zwar ebenfalls zum Sehen, aber immer mehr Komponierende arbeiten gezielt intermedial mit Video, Licht, Raum, Szene, Bewegung, Alltagsgegenständen sowie der Differenz von körperlicher Aktion und unsichtbarer elektronischer Zuspielung oder Transformation. Das jüngste EZM-Porträt ist Ricardo Eizirik gewidmet. Der 1985 in Brasilien geborene Komponist, DJ und Producer studierte ab 2011 bei Isabel Mundry in Zürich und lebt heute in Berlin. Seine fünf „Pre-Pandemic Pieces“ aus den Jahren 2016 bis 2021 erscheinen jetzt erstmals nicht mehr auf CD oder DVD, sondern ausschließlich online. Als Gegenstand existiert nur noch das Booklet mit dem deutsch-englischen Porträttext und QR-Codes, die beim Scannen mit der Internet-Plattform vimeo verlinken. Dort findet man dann die hochwertigen Audio-Aufnahmen aus dem Kammermusiksaal des Deutschlandfunk Köln in Kombination mit Videos von James Chan-A-Sue.
Hören und Sehen
Rein akustische Wiedergaben von Ricardo Eiziriks Musik machen tatsächlich wenig Sinn, denn die Sichtbarkeit der Instrument, Zusatzgeräte, Spielweisen und Aktionen ist integraler Bestandteil der Kompositionen. In „junkyard piece I“ setzt das Ensemble Recherche über Fußpedale kleine Vibratoren in Marmeladegläsern in Gang, die unterschiedlich gefärbtes Rasseln hören lassen und das perkussive Pochen, Schlagen, Reiben, Hämmern und Ticken des Ensembles zu einem ebenso hör- wie sichtbaren Dialog ergänzen. Außerdem spielen die Streicher stellenweise mit Papprohren statt Bögen und blasen Klarinettistin und Flötistin zuweilen in lange Schläuche, die in orangene Plastiktrichter münden, was den Klang nur geringfügig modifiziert, umso stärker aber das Erscheinungsbild des Ensembles.
„junkyard piece III“ gehört zur selben „Schrottplatz“-Werkserie. Das Ensemble agiert synchron mit elektronischem Knistern, Knacken, Brummen. Auf einer CD würde man zwischen den Störgeräuschen nur lange Generalpausen hören. Im Video sieht man dagegen die Musikerinnen und Musiker stumm Atem holen, die Bögen bewegen, ansetzen, zucken, erstarren. Der Schluss verkoppelt Aushol- und Schlagbewegungen mit dem Geräusch von splitterndem Glas, was man sehen muss, weil die sichtbare Ursache und hörbare Wirkung keiner realen Kausalität folgt, sondern eine intermediale Virtualität bildet, die nur das Auge als Illusion zu entlarven vermag.
Mensch-Maschine-Einheit
In „obsessive compulsive music“ dienen die Instrumente anfangs nur als Interfaces zur Steuerung elektronischer Sounds. Man sieht die Pianistin die Tasten berühren, hört aber über das Kontaktmikrophon an ihren Händen noisiges Rattern und Sirren, das Klarinettist und Cellistin mit großer Einsatz- und Battuto-Geste abschneiden. Live-Spiel und Elektronik hybridisieren sich zu einer Mensch-Maschine-Einheit, die verdeutlicht, wie sehr digitale Technologien, Medien und Verhaltensweisen auch das analoge Arbeits- und Privatleben durchdringen, so dass eine Unterscheidung kaum mehr möglich ist. Das Trio Catch erstarrt während buffernder Elektronik zu Freeze-Posen und beginnt auch selbst mit endlosen Repetitionen wie eine schadhafte Video-Datei zu buffern. Dann wieder stellt das Trio den humanen Faktor mit besonders körperlich-haptischen Spielweisen eigens heraus.
Das jüngste EZM-Porträt ist Ricardo Eizirik gewidmet.
Die Verzahnung von Live-Spiel und Elektronik erweckt in „Exercise in metal n. 1“ den Eindruck, nicht das schwarz gekleidete Ensemble steuere am schwarzen Tisch mit Stricknadeln und Stahlschwämmen auf schwarzen Metallplatten und Glocken vor schwarzem Hintergrund die Elektronik, sondern die vier automatenhaft agierenden und regungslos ohne jede Gestik und Mimik verharrenden Spieler würden in dieser Black Box wie Avatare ferngesteuert. Bei „in steps“ sieht man Bariton Guillermo Anzorena die Mikrophone der anderen fünf Mitglieder der Neuen Vocalsolisten samt rot leuchtender Aufnahmelämpchen über eine Fünf-Finger-Tastatur ein- und ausschalten. Das kontinuierliche Atmen, Sprechen, Singen und Pfeifen wird dadurch zu diskreten Partikeln ohne charakteristischem Ein- und Ausschwingvorgang zerlegt oder wahlweise zu Mixturen überlagert als handle es sich um beliebig codierbare Samples. Die mangelnde Varianz von Klang und Interaktionsweise hat jedoch zur Folge, dass das 18 minütige Stück in dem Moment zu langweilen beginnt, da man den Funktionsmechanismus durchschaut.
CD und/oder Online?
Seit 40 Jahren eröffnet die EZM den Geförderten neue Kontakte und Zugänge zu Festivals, Konzertreihen und Kompositionsaufträgen. Die Porträt-CDs dienten den jungen Komponierenden auch als Visitenkarte für Veranstalter, Rundfunk- und Printredaktionen. Inzwischen lassen sich CDs jedoch kaum mehr verkaufen und haben die meisten Hörer:innen keine CD-Player mehr, sondern streamen Musik nur noch über Internet und Playlists. Es ist daher richtig, auf das veränderte Medien- und Rezeptionsverhalten zu reagieren. In den kommenden Jahren möchte die EZM in Absprache mit den Porträtierten entweder weitere CDs oder Videos im jetzt neu aufgelegten Online-Format herausbringen. Die Verpackung der Booklets und QR-Codes sollte deswegen nicht bloß aus einem gesichtslosen braunen Einheitspappschuber bestehen, sondern von den Komponierenden ebenso individuell gestaltet werden können wie die bisherigen Alben.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!