Hauptrubrik
Banner Full-Size

Verantwortungsvoller Sachwalter des Notentextes

Untertitel
Günter Wand zum neunzigsten Geburtstag: neue und wiederveröffentlichte Aufnahmen
Publikationsdatum
Body

Auch an seinem im Januar begangenen 90. Geburtstag zählt Günter Wand zu den bedeutendsten Dirigenten Deutschlands. Das zeigen Wiederveröffentlichungen genauso wie Neuaufnahmen. Zugleich ist er der Inbegriff eines Anti-Stars, medienscheu und uneitel, mit einer Ausstrahlung, die Alter allein nicht bewirkt und erklärt.

Auch an seinem im Januar begangenen 90. Geburtstag zählt Günter Wand zu den bedeutendsten Dirigenten Deutschlands. Das zeigen Wiederveröffentlichungen genauso wie Neuaufnahmen. Zugleich ist er der Inbegriff eines Anti-Stars, medienscheu und uneitel, mit einer Ausstrahlung, die Alter allein nicht bewirkt und erklärt. Dennoch stiftet seine neueste CD Verwirrung: Dirigiert da wirklich ein 90-Jähriger, ein Mann aus der Generation Solti – Karajan – Celibidache? In Mozarts „Posthorn-Serenade“ jedenfalls geigt und schmettert das NDR-Sinfonieorchester so farbig-vital, sprudelt so ausgelassen – man glaubt, einem jugendlichen Hitzkopf zuzuhören. Ohnedies meinte Wand selbst vor gar nicht allzu langer Zeit im Interview: „Alter? Weiß ich nicht... In gewissem Sinne bin ich heute nicht älter als ich mit 35 war, in meiner Anschauung von Musik, in meiner Begeisterungsfähigkeit.“ Trotzdem lässt einen das rasante Schluss-Presto der „Posthorn-Serenade“ verwundert zurück: Was macht Günter Wand, damit seine Interpretation auch nach 70 Jahren am Pult so lebendig klingen?

Der 1912 in Elberfeld geborene Kaufmannssohn eignete sich die Orchester- und Opernliteratur völlig eigenständig an. Während seiner Galeerenjahre in Allenstein und Detmold genauso wie als Kapellmeister der Kölner Oper und späterer Chef des Gürzenich-Orchesters. Damals ging Wand voraussetzungslos und unbeeinflusst an Werke heran, die er nie zuvor gehört hatte. Nur mit Partitur und Klavier, denn Radio gab es ja keins und auch keine Aufnahmen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen! Und genauso erstaunlich ist, dass Wand bei dieser Herangehensweise blieb: Selbst wenn er ein Werk heute zum x-ten Mal dirigiert, er bringt Wochen und Monate vor der Aufführung mit dem Partiturstudium zu, erarbeitet sich noch einmal alles neu. Das erklärt vielleicht, warum die Mozart-Aufnahme des 90-Jährigen so frisch und unverbraucht klingt.

Was aber auch deutlich wird: Günter Wand versteht sich als verantwortungsvoller Sachwalter des Notentextes. Nur ihn will er darstellen und nicht sich selbst. Jetzt wird man sagen: Halt, aber – „Dienst an der Partitur“ ist heute ein geflügeltes Wort. Eine Plattitüde, die von vielen Musikern im Munde geführt wird. Und oftmals leidet genau darunter die emotionale Dringlichkeit, die menschliche Botschaft. Bestimmt ist auch bei Wand immer eines spürbar: Klarheit und Präzision – das bestreitet ja niemand. Aber es wirkt beileibe nicht alles so kühl und emotionslos wie bei anderen Nachkriegskünstlern. Das hat damit zu tun, dass bei Wand immer auch Platz ist für ursprüngliche Musikalität, für Lust und Freude.

Diese Balance von Herz und Hirn war und ist ein charakteristisches Merkmal seiner Aufnahmen. Das zeigen die „Essential Recordings“: Die liebevoll zusammengestellte zehn CD-Box dokumentiert die jahrelange Arbeit am Pult von vier Spitzenorchestern: Bruckners Sinfonie Nr. 5 und Schuberts Sinfonie Nr. 4 stammen aus den mittlerweile legendären Gesamtaufnahmen, die ab Mitte der 70er-Jahre mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester entstanden. Dagegen zeigt die 1. Sinfonie von Johannes Brahms die Zusammenarbeit mit dem Chicago Symphony Orchestra (1989), die Bruckner-Sinfonien 4 und 9 jene mit den Berliner Philharmonikern (1998). Da durfte ein Klangkörper natürlich nicht fehlen: Das NDR-Sinfonieorchester, dessen Chef Wand lange Jahre war, heute ist er Ehrendirigent auf Lebenszeit. Fans finden hier etliche Werke von Strawinsky, Schumann, Tschaikowsky, Mozart und Beethoven mit „seinem“ Orchester. Doch egal ob es sich bei all dem um Studioproduktionen handelt oder um „Live Recordings“, die Wand in späteren Jahren vorzog – die Klangqualität der zehn kleinen Silberscheiben ist selbst für den anspruchsvollen High-End-Freak die helle Freude, übrigens genauso wie das umfang- und aufschlussreiche Booklet.

Editorische Sorgfalt, brillante Klangqualität – das gilt auch für die beiden anderen Wiederveröffentlichungen aus Anlass des runden Geburtstags: Die integralen Sinfonie-Zyklen von Beethoven und Brahms – Studioproduktionen also, aufgenommen im Laufe der 80er-Jahre mit dem NDR-Sinfonieorchester. Und hier merkt man vielleicht noch stärker als in den „Essential Recordings“, die auch überarbeitet wurden: Die Klangtüftler der RCA haben ganze Arbeit geleistet. Ihr 24/96-Digital-Remastering bewirkt im Vergleich zu den Original-Aufnahmen eine deutlich hörbare Leistungssteigerung in der akustischen Abbildung: Die Tiefenstaffelung ist räumlicher; die Orchestergruppen klarer durchhörbar, ohne dass Tutti-Stellen gleich an fülligem Mischklang einbüßen. Und das bei Einspielungen, die ohnehin schon digital aufgezeichnet wurden! Technische Details interessieren bei der kürzlich erschienenen Live-CD mit Bruckners SinfonieNr. 8 nur am Rande (nmz 12/01-01/02). Schließlich ist das, was die Berliner Philharmoniker unter Wand bieten von einer überzeugenden, nachhaltigen Wirkung, der man sich kaum entziehen kann: Genauso wie bei Mozarts „Posthorn-Serenade“ – keine Spur von verklärendem Altersstil. Ein „Magier des Taktstocks“ war Günter Wand ohnedies nie. Modeströmungen interessieren ihn nicht. Die zunehmende Kommerzialisierung der Musikindustrie ließ ihn unberührt. Aber: „Wenn die Flamme nicht mehr da ist“, dann wolle er „schnellstens aufhören“. Sie lodert bis heute.

Diskografie

(alle Aufnahmen: RCA/BMG)
Beethoven, Sinfonien Nr. 1–9; NDR-Sinfonieorchester (1985-88); 74321891092 (5 CDs)
Beethoven, Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60; Mozart, Serenade D-Dur KV 320 „Posthorn-Serenade“ (2001, live); NDR-Sinfonieorchester; 74321897172 (CD)
Brahms, Sinfonien Nr. 1–4; NDR-Sinfonieorchester (1982-83); 74321891032 (2 CDs)
Bruckner, Sinfonie Nr. 8 c-Moll; Berliner Philharmoniker (2001, live); 74321828662 (2 CDs)
The Essential Recordings: Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Mozart, Schubert, Schumann, Strawinsky, Tschaikowsky; Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Chicago Symphony Orchestra, NDR-Sinfonieorchester, Berliner Philharmoniker; 74321901142 (10 CDs)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!