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Götterdämmerung in Minden. Foto: Stadttheater Minden
Götterdämmerung in Minden. Foto: Nordwestdeutsche Philharmonie
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Wagner-Wunder in der Provinz – „Götterdämmerung“ in Minden

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Ein winziges Provinz-Theaterchen ohne eigenes Ensemble und Orchester mit gerade einmal 535 Plätzen spielt Wagner? Das klingt eigentlich nach purem Größenwahn oder besser noch nach laienhafter Selbstüberschätzung. Doch in Minden hat dieser Wahnsinn seit 16 Jahren Methode und hat sich nun gerade mit der Premiere der „Götterdämmerung“ zu unglaublichem Erfolg verdichtet. Denn nun ist der „Ring“ tatsächlich rund, im kommenden Jahr wird die gewaltige Tetralogie, unter der selbst große Operntanker ächzen sogar zwei Mal zyklisch über die Bühne gehen. Ein Wunder. Zumal sich der Mindener „Ring“, ebenso wie alle die Produktionen der Vorjahre keineswegs hinter den großen Häusern verstecken muss. Im Gegenteil.

Es war aber nicht eine visionäre Stadt- und Kulturpolitik, die dieses kühne Projekt in der Provinz anzettelte. Sondern der Bürgerstolz ambitionierter Wagner-Liebhaber. Denn hinter den Mindener Wagner-Opernproduktionen steckt der örtliche Wagner-Verband. Der existiert bereits seit 116 Jahren und war schon immer stark, aber einen rasanten Zuwachs erlebte er seit 1998, als Jutta Hering-Winckler den Vorsitz übernahm. Die Anwältin ist in ihrer Heimatstadt bestens vernetzt und sorgte dafür, dass der Verband auf eine Mitgliederzahl von mehr als 400 anwuchs, was für eine Stadt wie Minden mit ihren knapp 82.000 Einwohnern schon bemerkenswert ist. Und als 2002 das 90-jährige Jubiläum des Verbands bevorstand, sollte natürlich etwas Besonderes geschehen. Im Stadttheater – ein blütenweißes neobarockes Juwel – war lange Jahre keine Oper mehr gegeben worden, sondern nur Tourneetheaterproduktionen. Die Mindener Wagnerianer mussten also reisen, um des Meisters Werke live zu erleben. So wuchs die Sehnsucht, zum Geburtstag endlich einmal in Minden wieder Wagner zu erleben.

Und alsbald wurde der kühne Plan tatsächlich konkret. Jutta Hering-Winckler geriet zufällig an den Dirigenten Frank Beermann, der schnell die außergewöhnliche Chance begriff und seither mit der Nordwestdeutschen Philharmonie im Wagner-Boot ist. Beerman, der lange GMD in Chemnitz war und seither frei tätig und viel gefragt ist, wollte bewusst ein reines Konzertorchester für seinen Wagner-Plan, denn „die starten ganz anders darein, weil die sonst ja nie Wagner spielen.“

Tatsächlich spielt das Orchester in Minden bis heute eine buchstäblich herausragende Rolle. Denn es sitzt nicht im Graben, was selbst bei reduzierter Besetzung – in den ersten Geigen sitzen nicht wie in Bayreuth 16, sondern nur zwölf Musiker – unmöglich gewesen wäre, sondern mitten auf der Bühne. Bevor das mit aufwändigen Podien realisiert werden konnte, musste eigens die Statik der Bühne getestet werden. Aber dann ging es los mit dem „Fliegenden Holländer“, der gleich wie eine Bombe einschlug in der Stadt. Mit dem durchschlagenden Erfolg hatte niemand gerechnet, auch nicht damit, dass alles so gut funktionierte, obwohl das Team so klein war und bis heute ist. Schnell entwickelte sich der Hunger auf mehr und größere Wagner-Portionen: 2005 folgte „Tannhäuser“, 2009 „Lohengrin“ und 2012 „Tristan“.

Im Selbstbewusstsein des wachsenden Bürgerstolzes wurden stets renommierte Kräfte verpflichtet, etwa Regisseure wie John Dew und Keith Warner, aber auch junge Sänger, die von Minden aus eine große Karriere starteten wie beispielsweise Andreas Schagerl, der 2012 den Tristan sang und inzwischen längst an den großen Häusern singt. Mittlerweile strahlte Minden weit aus, die überregionale Presse reiste an und staunte. Doch der „Tristan“ war eigentlich als Höhepunkt und Ziel des aufreibenden Projekts gedacht, für das immer wieder mühsam die Gelder von Privatleuten, dem Verband und Stiftungen zusammengekratzt werden müssen.

Aber der Stolz der Stadt auf das Vorzeige-Projekt verlangte nun nach dem Äußersten: Seit 2015 werden im Jahresrhythmus die Teile des „Rings“ produziert und der letzte Streich, die „Götterdämmerung“ wurde frenetisch gefeiert.

Psychologisch ausgefeilte, schnörkellos erzählende Personenführung

Wieder sitzt das Orchester auf der Bühne, abgetrennt von einem Gazevorhang, auf dem hin und wieder meist abstrakte, nur dezent andeutende Videoprojektionen von Matthias Lippert zu sehen sind. Manchmal wird die Gaze ganz durchscheinend, dann ist das Orchester deutlich zu sehen, manchmal verdichtet sie sich durch geschickte Beleuchtung zu einer Rückwand. Das Geschehen spielt auf der Vorbühne und dem mit zwei Stegen zur Hälfte überbauten Orchestergraben, in dessen Tiefe steile Treppen führen. An der linken Seite schlängelt sich eine Wendeltreppe hinauf, die Spielflächen bleiben überwiegend leer. Regisseur Gerd Heinz setzt kaum Requisiten ein, sondern konzentriert sich ganz auf eine psychologisch ausgefeilte, schnörkellos erzählende Personenführung. Frank Philipp Schlößmann hat die kleine Bühne mit einem großen hölzernen Ring umrahmt, sonst stört nichts das puristisch anmutende Geschehen, das in einer zeitlosen Gegenwart angesiedelt ist.

Das Orchester spielt um sein Leben

Frank Beermann steht mit dem Rücken zum Geschehen und muss sich ganz auf die Absprachen der Probenarbeit verlassen, denn er hat keinen direkten Kontakt zu den Sängern, die von dieser Schwierigkeit aber vor allem profitieren. Denn sie sind in intime Nähe herangerückt, können leise singen, müssen niemals forcieren und bringen den Text so plastisch über die Rampe, dass endlich einmal keine Übertitel gebraucht werden. Die ungewohnte Nähe klingt manchmal wie Kammermusik, zumal das Orchester sich hinten im Bühnenraum bereits angenehm mischt und ähnlich wie in Bayreuth ohne brutale Härten und Blech-Übergewicht im Saal ankommt. Es klingt insgesamt wunderbar rund, dennoch sinnlich-saftig und transparent. Das liegt an Beermann, der souverän und überlegt dirigiert, keine Mätzchen einbaut und dennoch dramatischen Biss hat. Aus der insgesamt famosen Sängerschar ragen heraus Dara Hobbs leuchtend mühelose Brünnhilde, die fulminante Spitzentöne produziert, Thomas Mohrs Siegfried, der dem Helden auch liedhafte Legati angedeihen lässt, Renatus Mézárs pointierter Gunter und Andreas Hörls imposanter Hagen. Der eigentliche Star des Abends aber ist das Orchester, das um sein Leben spielt.

So kommt es, dass Wagner sich in der Provinz einmal mehr besonders wohl fühlt. Ist es womöglich der schrullig schlaue Plan des Meisters selbst, der sich bewusst von den Metropolen ab – und dem verträumten oberfränkischen Bayreuth zuwandte, der sich immer wieder auch anderswo bewahrheitet? Wie jetzt eben wieder in Minden, wo Wagner auf wundersame Weise ganz zu sich kommt.

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