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Foto: © Falk von Traubenberg
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Wo, wenn nicht hier … – Fulminanter Start des neuen Festivals Bayreuth Baroque

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Das Festival Bayreuth Baroque startete mit Nicola Antonio Porporas Oper „Carlo il Calvo“. Regisseur und Sänger Max Emanuel Cenčić lässt hier in immerhin 35 Szenen eine Art Telenovela mit einem Mix aus Erbschaftsstreit, Machtkampf und Liebeshändel aller möglichen Varianten ablaufen. Auch, wenn nur 200 Zuschauer zugelassen waren, gab es ganze fünf Brutto-Opernstunden mit zwei Pausen und ohne personelle Ausdünnung auf der Bühne oder im Graben. Es habe sich gelohnt, meint unser Kritiker Joachim Lange.

Als die Schwester von Preußenkönig Friedrich II., Wilhelmine, von ihrem Bruder als Markgräfin nach Bayreuth beordert (sprich verheiratet) wurde, baute sie sich ein Opernhaus. Vielleicht als Trost oder aus Trotz. Jedenfalls in einem Format, das es in den 40er Jahren des 18.Jahrhunderts mit dem Glanz von Dresden oder Wien aufnehmen sollte und konnte. Da man in Bayern heutzutage nicht nur weiß, was man an den Hinterlassenschaften seines wagnerverrückten Königs Ludwig II., sondern auch an denen der Markgräfin Wilhelmine hat, erstrahlt dieses nie abgebrannte oder sonst irgendwie verunstaltete Schmuckstück, nach aufwändiger Renovierung seit 2018 wieder in seiner ganzen barocken Herrlichkeit. Wirklich lebendig und überwältigend wird dieses längst zertifizierte Weltkulturerbe aber erst, wenn die Musik dort erklingt, für die es errichtet wurde. 

Haargenau so wie jetzt beim neu etablierten Bayreuth Baroque Festival. Mit einer szenischen und einer konzertanten Oper und einer Reihe von Konzerten in der ersten Septemberhälfte, gleich im Anschluss an die (heuer coronabedingt gecancelten) Wagner-Festspiele.  

Neben kultur- und marketingaffinen Entscheidungsträgern braucht es für ein solches Projekt vor allem Enthusiasten wie Max Emanuel Cenčić. Wie sonst wohl nur noch Cecilia Bartoli legt sich der 43jährige Countertenor für die Barockmusik ins Zeug. Als Sänger in der Spitzenriege seiner Zunft. Aber auch als Regisseur und seit zehn Jahren obendrein mit seiner längst gut platzierten Produktionsfirma Parnassus Arts Production. Cenčić hat sich mit vielen seiner unabhängig produzierten Barockopern zu einer Art unternehmerisch-künstlerischen Gesamtkunstwerk gemausert. Dem fehlte eigentlich nur noch das eigene Festival am maßgeschneiderten Ort. Jetzt hat er es. Man mag sich gar nicht vorstellen, was für eine Prachtentfaltung zelebriert worden wäre, wenn es ohne Corona kurz nach dem Finale der Wagner-Festspiele oben auf dem Grünen Hügel Ende August, unten in der Stadt gleich mit dem Bayreuth Baroque weitergegangen wäre! 

Mehr als eine Ahnung davon bot jetzt die Corona abgetrotzte Premiere von „Carlo il Calvo“ des  neapolitanischen Händel-Zeitgenossen Nicola Antonio Porpora (1686-1768). Auch, wenn nur 200 Zuschauer zugelassen waren, gab es ganze fünf Brutto-Opernstunden mit zwei Pausen und ohne personelle Ausdünnung auf der Bühne oder im Graben. Das dürfte zum Alleinstellungsmerkmal dieses Sommers reichen. Es hat sich gelohnt! 

Cenčić lässt den musikalischen Glanz der neapolitanischen Barock-Musik mit einer opera seria aus dem Jahre 1738 aufscheinen, die völlig in Vergessenheit geraten war. Für den wohltemperiert drängenden Sound sorgt der designierte künstlerische Leiter der Göttinger Händelfestspiele George Petrou mit den Musikern seines Orchester Armonia Atenea über weite Strecken vom Cembalo aus. Er kostet dabei auch die instrumentalen Zwischenspiele sichtlich aus. Cenčić hat die barocke Opernausgrabung selbst inszeniert und mit seinem Team in Athen einstudiert. Für die zwischen karibischer und mediterraner Verfall-Grandezza changierende Bühne hat Giorgina Germanou die Salons und Wintergärten gebaut und Maria Zorba mit dem Chic der Kostüme für Zwanzigerjahre-Eleganz gesorgt. Das ariengespickte, barocktypisch verworrene Jeder-gegen-Jeden beginnt und endet mit einer üppigen Familientafel (wenn es dicke kommt, sind zwei Dutzend Leute auf der Bühne!). Mit diabolisch krächzendem Gelächter einer Alten im Rollstuhl zu Beginn. Und schließlich mit einem vom Stuhl fallenden Familienoberhaupt. Kurz nach dem unvermeidlichen, mit einer herrlich komischen Tanznummer hingeswingten Happy End. 

Dazwischen lässt Cenčić in immerhin 35 Szenen eine Art Telenovela mit einem Mix aus Erbschaftsstreit, Machtkampf und Liebeshändel aller möglichen Varianten ablaufen. Die machen Spaß und lassen auch dann, wenn in den Arien die Wiederholungsrunden angesagt sind, keine Langeweile aufkommen. Auf dieser üppigen, sich mehrmals wandelnden Bühne ist immer was los – im Zweifel ein Tick mehr als nötig.

In der eigentlich im Mittelalter angesiedelten Story wird bis aufs Messer um das Erbe, also die Macht gestritten, das dem (stummen) kindlichen Titelhelden zusteht. Diese Übersetzung ins mafiöse Klischeemilleu funktioniert fabelhaft. Man wahrt den Schein, aber kennt keinerlei Skrupel. Als Counter gibt Cenčić selbst, stilsicher wie gewohnt, den sichtbar gealterten Clanchef Lottario. Suzanne Jerosme ist seine verwitwete Stiefmutter Giuditta und Nian Wang deren Tochter Eduige. Bruno de Sá fällt (als Anwalt der Familie) mit seinen atemberaubenden Sopran-Spitzentönen auf. Tenor Petr Nekoranec versucht als Bodyguard Asprando mit allen Mittel (von Mord bis zum Versuch, den verklemmten Clanchef persönlich mit seinem Luxuskörper zu verführen) seine eigenen Ambitionen durchzusetzen. Dass er sich als der leibliche Vater des Knaben Carlo entpuppt und bei einer zünftigen Schießerei auf der Strecke bleibt, versteht sich fast von selbst. So was wie einen roten Faden bilden Franco Fagioli und Julia Lezhneva als Liebespaar mit Hindernissen. Er als relativ ehrlicher Sohn des Hauses Adalgiso, sie als seine Verlobte Gildippe. Fagioli demonstriert wieder einmal seine Extraklasse mit Kunsttücken auf dem vokalen Koloraturhochseil in der Barockzirkus-Arena. Für das einzige Endlosduett mit der so quicklebendig wie federleicht mit ihm davon schwebenden Russin gibt es ganz zu Recht den längsten Szenenapplaus. Für die beiden grandiosen Protagonisten. Aber auch für Nicola Antonio Porpora. Endlich mal wieder „richtige“ Oper. Mit wirklich allem Drum und Dran! 

  • www.bayreuthbaroque.de/
  • „Carlo il Calvo“, wieder am 5. und 8. September 2020 im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth, am 8. September auch live ab 18.00 Uhr auf BR Klassik.

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