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Kölner «Menschensinfonieorchester» holt Musiker von der Straße

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Köln (ddp-nrw). Im Kölner «Menschensinfonieorchester» spielen «ganz normale» Musiker mit solchen, die dem bürgerlichen Leben auf irgendeine Art entglitten sind. Etwa die Hälfte der Orchestermitglieder war schon einmal obdachlos. Die 14köpfige Band wird im Rahmen des Weltjugendtags mehrere Konzerte geben und sich unter anderem an der Eröffnungsveranstaltung in Bonn am 16. August beteiligen.


Die etwas andere Band - Kölner «Menschensinfonieorchester» holt Musiker von der Straße und gibt ihnen neuen Lebensmut
Köln (ddp-nrw). Erwin Grote ist regelmäßig schon eine Stunde vor dem offiziellen Probenbeginn im Gemeindesaal der Kölner Martin-Luther-Kirche. Dann baut der Mann mit den zotteligen graublonden Haaren und dem Schlapphut auf dem Kopf emsig Boxen und Verstärker auf, verlegt Kabel, stimmt seine Gitarre und übt schon mal ein paar Akkorde. «Damit dann alles fertig ist, wenn die anderen kommen. Wenn wir Zeit verlieren, dat wär\' schade», sagt er, während er den Kirchensaal in den Probenraum des «Menschensinfonieorchesters» verwandelt.

Das zurzeit 14-köpfige Orchester ist einzigartig in Deutschland. Unter der musikalischen Leitung des italienischen Profimusikers Alessandro Palmitessa proben zweimal die Woche «ganz normale» Musiker mit solchen, die dem bürgerlichen Leben auf irgendeine Art entglitten sind. Etwa die Hälfte der Bandmitglieder, großteils ehemalige Straßenmusikanten, hat eine traurige Geschichte zu erzählen: Obdachlosigkeit, Alkohol- und Drogensucht, Beschaffungskriminalität, politische Verfolgung oder alles zusammen.

Sobald sie jedoch das gemeinsame Musizieren beginnen, scheinen sie die tragischen Biografien hinter sich zu lassen. Das Spielen mache ihn einfach glücklich, beschreibt Chemal Ghome-Farej (Perkussion), der vor knapp 20 Jahren aus dem Iran geflohen ist, seine Gefühle. Genau in diesen oftmals gescheiterten Vergangenheiten entdeckt Palmitessa die besondere musikalische Stärke und Kraft der Band: «Sie lassen alle Gedanken und Gefühle zu, denn sie haben schon alles verloren».

In ihren Liedern erzählen sie vom Leben auf der Straße, ihren Ängsten und Sehnsüchten, aber auch vom Aufbruch in eine neue Zeit. Die Anfang 2001 von Palmitessa und Hans Mörtter, Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde in Köln-Süd, gegründete Band spielt trotz ihres Namens keine Klassik. Im Gegenteil: Mal klingen die von Sänger Jürgen Baack geschriebenen und gemeinsam mit Palmitessa arrangierten Lieder rabauzig wie ein ehrlicher Rocksong, mal wehmütig wie eine Ballade, ein andermal erinnern sie an lebendigen Free-Jazz oder traurigen Blues.

Hinter dem «Menschensinfonieorchester» steht allerdings nicht nur eine musikalische Erfolgsstory - das Ensemble hat mittlerweile 14 Songs im Repertoire, eine CD produziert, die zweite ist in Arbeit -, sondern auch eine menschliche. Chemal, der knapp zwanzig Jahre alkoholabhängig war, betont, dass er durch das Orchester eine neue Aufgabe gefunden habe. «Seit ich hier vor zwei Jahren zum Orchester gekommen bin, trinke ich nicht mehr». Denn betrunken könne er sich nicht konzentrieren. Früher hat er mal hier und da auf den Straßen der Kölner Südstadt gelebt. «Vor einem Jahr habe ich ein Zimmer gefunden», erklärt er stolz.

Chemals Geschichte ist nicht einmalig. Zurzeit lebt keiner der ehemals obdachlosen Bandmitglieder auf der Straße. Erwin, der für ein paar Monate im Volksgarten sein Zuhause hatte, hat mittlerweile eine kleine Wohnung. Und Jürgen, der gerade einen Methadon-Entzug macht, hat eine Unterkunft in einer sozialen Einrichtung.

Die Entwicklung des ungewöhnlichen Ensembles hat viele erstaunt: Vor allem einige Sozialarbeiter aus der Kölner Südstadt seien anfangs skeptisch gewesen, weil es den obdachlosen Musikern angeblich an Disziplin und Zuverlässigkeit fehle, betont Palmitessa. Die Band hat in den vier Jahren seit ihrer Gründung jedoch das Gegenteil bewiesen.

Als Erwin gegen Ende der Probe etwas ungeduldig wird, weil er seine Gitarre nach über drei Stunden immer weiter zupfen möchte, seine Kollegen aber zum Klönen oder auch zum Bier trinken eine Pause einlegen, sagt er liebevoll: «Dat is eben so wie in jeder Familie. Dat sin immer die gleichen Marotten."

Das «Menschensinfonieorchester» wird im Rahmen des Weltjugendtags mehrere Konzerte geben und sich unter anderem an der Eröffnungsveranstaltung in Bonn am 16. August beteiligen.

Anja Albert

http://www.menschensinfonieorchester.de