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Das leise Sterben der Bücher - 60 Millionen Bände in Deutschland von Säurefraß bedroht - Projekt nimmt Kampf gegen Zerstörung auf
München (ddp). Deutschlands Bibliotheken schlagen Alarm. Schätzungsweise 60 Millionen Bücher aus der Zeit ab 1850 sind von Säurefraß bedroht. Ob Goethe-Ausgaben, dokumentarische Sachliteratur oder wissenschaftliche Werke - das Papier bröselt wie Tabak, sobald eine Seite angefasst wird. «Das Problem ist dramatisch», sagt der Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Hermann Leskien. Nun soll unter der Federführung seines Hauses eine Initiativgruppe eine «nationale Strategie» zur «Bestandserhaltung des bedrohten schriftlichen Kulturguts» entwickeln und «die Öffentlichkeit wachrütteln». Denn in Deutschland sei auf diesem Gebiet bislang «relativ wenig passiert», kritisiert Leskien.Die Buchbestände der Jahre etwa zwischen 1850 und 1970 seien mehr oder minder alle mit Papier hergestellt, das säurehaltig sei, erläutert der Bibliotheksdirektor den Hintergrund. Mitte des 19. Jahrhunderts begann die industrielle Herstellung von Papier, und bei der Produktion blieben Substanzen von Säurecharakter zurück. Die Konsequenzen seien nicht bedacht worden, sagt Leskien. Die Folge: Früher oder später wird das Papier von innen her zersetzt.
Bekannt sei das Problem schon lange. «Nur werden jetzt die Langzeitwirkungen immer greifbarer», sagt Leskien. Es sei zwar ein «Massenphänomen», das die Bestände aus 120 Jahren in unterschiedlicher Stärke betreffe, aber «Bücher sterben leise vor sich hin» - und damit auch die entsprechenden Inhalte sowie wissenschaftlichen und historischen Erkenntnisse.
Dass eine Rettung aller 60 Millionen bedrohten Bücher unmöglich ist, ist auch den Experten klar. Es würde notfalls auch reichen, von jedem Titel ein Exemplar zu erhalten, sagt Leskien. Zudem gebe es die Möglichkeit, Mikrofilme von den Werken anzufertigen.
Nun muss der Initiativkreis, dem bislang ein gutes Dutzend Bibliotheken, Archive sowie Vertreter von Ministerien angehören, erst einmal Strategien auf die Beine stellen. Auch eine «Best-Practice-Analyse» der zurzeit vorhandenen technischen Verfahren zur Entsäuerung soll erstellt werden.
210 000 Euro hat die VolkswagenStiftung jetzt für das Projekt zur Verfügung gestellt. Deutschland habe keine Nationalbibliothek, deshalb müssten nun die Aktivitäten der verschiedenen Häuser koordiniert werden, sagt der Leiter der Abteilung Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bei der Stiftung, Axel Horstmann.
Das heißt also: Prioritäten setzen. «Nimmt man die Bücher, die am meisten bedroht sind, geht man chronologisch vor?», formuliert Horstmann die entsprechenden Fragen. Wer die Rettungsmaßnahmen bezahlen soll, wird anschließend die entscheidende Frage sein. Die Gelder müssten aus anderen Bereichen kommen, ob vom Bund, Stiftungen oder von Privatpersonen, fordert Leskien. Notwendig sei ein «intelligentes Finanzierungskonzept», betont Horstmann. «Retten, was noch zu retten ist», überschreibt die VolkswagenStiftung das Vorhaben.
Nathalie Waehlisch