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Abschiedssinfonien mit Radio-Orchestern?

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Zur Diskussion über die Klangkörper im öffentlich-rechtlichen Rundfunk
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Auf der kommenden Frankfurter Musikmesse wird es am Stand der ConBrio-Verlagsgesellschaft am 6. April 2011 auch eine Diskussion über die Existenzberechtigung der Orchester und Chöre in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geben. Müssen die Sender überhaupt noch ihre kos-tenträchtigen Ensembles unterhalten? Kann man die Musiksendungen nicht billiger mit Aufnahmen aushäusiger Orchester und Chöre bestreiten? Wie kommen die Rundfunkanstalten überhaupt dazu, mit den Gebühren vieler Hörer für eine Minderheit an klassischer oder auch moderner Musik Interessierter bestimmte Programmteile in Eigenproduktion zu finanzieren? Noch wirkt die Musikwelt in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vordergründig wie eine heile Welt. Doch hinter den Kulissen rumort es – so scheint es jedenfalls.

Trügt der Schein? Der Oberste Bayerische Rechnungshof empfahl vor einiger Zeit dem Bayerischen Rundfunk, dessen Klangkörper, vor allem das Sinfonieorchester, aus dem Etat auszugliedern. Wie das geschehen könnte, wurde nicht gesagt. Der „Anschlag“ auf die Existenz des Münchner Rundfunkorchesters wurde erst durch ein Gerichtsurteil vereitelt, nur musste das Orchester erheblich verkleinert werden. Beim Südwest-rundfunk erscheint die Lage noch diffuser. Ein Sinfonieorchester residiert in Freiburg/Baden-Baden, ein zweites in Stuttgart. Dazu ein drittes durch Zusammenlegung in Kaiserslautern/ Saarbrücken. Da letztere Fusionierung die Sender zweier Bundesländer betraf, dürfte die Existenz dieses Orchesters nicht zur Diskussion stehen. Also Stuttgart und Freiburg/Baden-Baden? Erste Gespräche scheinen inzwischen sozusagen „vom Tisch“. Das Thema Fusion ist heikel. Das Land Baden und das Land Württemberg müssen seit ihrer Vereinigung sorgfältig auf kulturelle Gleichbehandlung achten. Unabhängig davon: Sowohl das Stuttgarter Orchester als auch die Baden-Baden/Freiburger „Konkurrenz“ haben im Laufe ihrer Existenz eigene Profile entwickelt, die durch eine Fusion verwischt würden.

Weitere Fälle: die ständig immer wieder aufflackernden Diskussionen und Streitereien über die Berliner Rundfunk Orchester und Chöre GmbH! Wer will die beiden hochqualifizierten und sehr individuellen Berliner Sinfonieorchester zusammenlegen? Wo sie doch durchaus ihr wachsendes Publikum gefunden haben. Und dann noch das Vokalensemble des Südwestrundfunks, das ein ehemaliger Intendant schon einmal auflösen wollte, worauf sich ein im  wahrsten Sinn des Wortes „weltweiter“ Proteststurm der Musikfreunde erhob. Eine Auflösung kann man aber auch durch eine langsame Zersetzung bewirken. Das SWR-Vokalensemble, einst sechsunddreißig Mitglieder stark, soll innerhalb einer Frist mittels Nichtbesetzung freigewordener Positionen beharrlich auf vierundzwanzig Sängerinnen und Sänger abgeschmolzen werden. Aus einem Chor wird ein Kammerchor. Und das breite Repertoire des großen Chores landet im Fundus (siehe dazu auch unseren Bericht auf Seite 45).

Wer die Arbeit der rundfunkeigenen Orchester und Chöre über die vielen Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg „live“ miterlebt hat, kann über die ausgebrochenen Debatten nur verwundert den Kopf schütteln. Warum wurden die Sinfonieorchester, die allgemeinen Rundfunkorchester, die Rundfunkchöre überhaupt gegründet, meist auf Anordnung der damaligen Militärregierungen, die uns auch musikalisch demokratisieren wollten? Die Schallarchive mussten nach den Zerstörungen des Krieges wieder bestückt werden, die Werke verfemter Komponisten forderten Rehabilitierung, besonders aber die Entwicklungen der Neuen Musik, von denen Deutschland zwölf lange Jahre abgeschnitten war, verlangten nach Aufmerksamkeit. Der Rundfunk hat in seiner Gesamtheit die ihm aufgetragenen Aufgaben mustergültig, engagiert, ja mit Enthusiasmus bewältigt. Die Zahl der Auftragskompositionen und Uraufführungen ist Legion, gehört fest zur Geschichte der Musik. Und das alles nicht allein, um Programme und Archive aufzufüllen, sondern als eigenständige künstlerische Leistung. Das braucht man einem halbwegs informierten Musikpublikum nicht detailliert immer wieder zu erklären. Die derzeit zahlreich aus den Archiven erscheinenden CD-Einspielungen mit denkwürdigen Rundfunkaufführungen Neuer, Klassischer oder Alter Musik, oft in eigenem Vertrieb oder in Zusammenarbeit mit ambitionierten kleinen Labels ediert, offenbaren einen musikalischen Reichtum, der die Rundfunkanstalten selbst zu einem Kulturgegenstand erhebt, der umso mehr geschützt werden muss, weil er keine tote Masse darstellt, sondern in einen lebendigen Organismus eingebettet erscheint, der unentwegt und mit ungebrochener Neugier an der Zukunft der Musik weiterarbeitet – wozu auch die ständig wachsende Vermittlung der Musik an neue Publikumsschichten und an die Jugend gehört.

Man trifft heute oft auf eine „mittel-alterliche“ Schicht von sogenannten „Machern“, auch in den Funkhäusern, die Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen nur mehr statistisch zu begreifen vermögen. Stichwort: Einschaltquote. Dass „Kultur“ einen höchst komplexen und komplizierten Schöpfungsakt darstellt, ist diesen flotten Statistikern nur schwer beizubringen. Aber vielleicht schüchtern engagierte Diskussionen mit überzeugenden Argumenten die Ignoranten wenigstens insoweit ein, bevor sie Unheil anrichten können, das nicht wiedergutzumachen wäre. 

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