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„Wo ist Chopin?“ – eine Installation von und mit Jarosław Kapuscinski . Foto: Karol Piechocki
„Wo ist Chopin?“ – eine Installation von und mit Jarosław Kapuscinski . Foto: Karol Piechocki
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Alle Macht den „Keyboards“

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Beim 53. Warschauer Herbst standen Frédéric Chopin und die Musik für Tasteninstrumente im Zentrum
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Es ist noch nicht allzu lange her, da scheute sich so mancher zeitgenössische Tonsetzer, an das Klavier – als sicher wichtigstes Instrument des 19. Jahrhunderts, mithin der Romantik also – auch nur zu denken. Und wenn, dann wurde eine jener frühesten und sogleich technisch komplexesten Erfindungen der Musikgeschichte auf ungewöhnliche Weise traktiert, meist zuvor präpariert, auf dass der vertraute Klang recht fremd anmutete oder erst gar nicht ertönte, wie zum Beispiel in „4.33“ von John Cage, wo für „vier Minuten und 33 Sekunden“ die Spielanweisung „tacet“ lautet.

Damals 1952 ahnte noch niemand, dass Tasten, „keys“, einmal die Welt regieren würden. Heute ist moderne Kommunikation ohne Tastaturen – ob Computer, Handys, Navigatoren und mehr – ohne Tastaturen nicht mehr denkbar. Grund genug für eines der renommiertesten Festivals zeitgenössischer Musik, den „Warschauer Herbst“, bei seiner 53. Ausgabe den Blick auf die Welt der Tasten mit all ihren musikalischen und technischen Ausprägungen zu richten – von Klavier, Orgel, Cembalo, Harmonium über Clavinova oder Akkordeon bis zur Computer-Tastatur.

Dabei präsentierte das Programm-Komitee des Festivals eine stattliche „Revue“ zeitgenössischer Klangkunst. Darunter waren zwölf Auftragswerke des Festivals, und weitere 25 Werke erlebten in Warschau ihre Uraufführung. So gab es etwa beim Eröffnungskonzert in der Warschauer Philharmonie „Listy“ (Briefe) für vier Klaviere und Orchester von Zygmunt Krauze. Ein Werk, das trotz der „Macht“ der vier (führenden) Klaviere einen feinen, zurückhaltend-nachdenklichen Charakter hatte, bei dem Krauze viel mit liegenden Klangflächen arbeitet. Seine „Briefe“ – es sind fast zwanzig –widmete Krauze Komponisten-Kollegen. Zwei der kleinen musikalischen Porträts galten zwei Kollegen, von denen ebenfalls Werke im Eröffnungskonzert erklangen: „Omaggio (in memoriam Jorge Luis Borges)“ von dem 1988 verstorbenen Polen Tomasz Sikorski ebenfalls für vier Klaviere und Orchester, und „Haags Hakkûh“ von dem Niederländer Louis Andriessen, das sich unter anderem auf einen vulgären niederländischen Fußball-Song und das „rave-dancing“ (rave = rasen, toben) bezieht, sowie auf einen „Tom und Jerry“-Cartoon, wo das Piano virtuos traktiert wird. Eine rhythmisch-atemlose, effektvolle Orchester-Toccata.

Das Abschlusskonzert lieferte ein spektakuläres i-Tüpfelchen mit „Karkas“ (Kadaver, Wrack) von dem Niederländer Cornelis de Bondt. Das Orchester ist groß und ungewöhnlich besetzt (u.a. Klaviere, Hammond-Orgeln, elektrische Gitarren, Hörner, Posaunen), dazu eine Video-Projektion, die die Explosion eines in freier Landschaft stehenden Flügels zeigt, jedoch zeitlich rückwärts und ausgedehnt auf eine geschlagene Stunde. In einigen Sekunden Epilog ohne Musik läuft die Explosion noch einmal vorwärts in Echtzeit ab. Ein Blick zurück in die 1980er-Jahre, als das Stück entstand, allerdings ein, mit der fortschreitenden Zeit, die Nerven durchaus strapazierendes Werk, mit monotonen, sich minimal verändernden, hart-seelenlosen Rhythmen, mit eigentlich nicht erkennbarer Relation von Musik und Bild, effektvoll gleichwohl.

Spannender war, was sich in den sieben Tagen zwischen Eröffnungs- und Abschlusskonzert abspielte. Neben fast klassischen Konzerten (für Cembalo und Zuspielband von Paweł Mykietyn, für Klavier von Beat Furrer), gab es etwa die phantasievollen Sound-installationen, die auch den Besucher zum Agieren aufforderten. Bei „qub“ von Krzysztof Knittel und Marek Chołoniewski – im Innenhof der Chopin-Universität – konnten die Hände durch leere (Fenster-)Rahmen bewegt werden. Währenddessen wurden unsichtbare Wellen gebrochen und die elektronischen Signale in Klänge umgesetzt, oder in visuelle Muster, die wiederum an eine Decke projiziert wurden. Mit Fantasie konnten die Spieler dabei mit den verschiedenen Klängen in einen Dialog treten. Zwei weitere Installationen in den Hallen des „Studio Tecza” (Regenbogen Studio), einem alten, heute vielfach genutzten Fabrikgelände, nahmen den polnischen Jubilar des Jahres unter die Lupe. Bei „Mapping Chopin“ (Chopin karthographieren) von Paweł Janicki war eine Art Partitur, eine „Klang-Karte“ auf den Boden projiziert, der Besucher konnte darüberlaufen und beeinflussen, in welchem Tempo ein Chopin-Werk, das aus Lautsprechern kam, erklingen sollte. Bei der zweiten Installation, „Where is Chopin?“, hatte Jarosław Kapuscinski die Gesichter, die Mimik, die Regungen von Menschen in aller Welt beim Hören von Chopin-Préludes gefilmt.

Chopin sei, so erläuterte der künstlerische Leiter des „Warschauer Herbstes“, Tadeusz Wielecki, im Interview, durchaus im Bewusstsein der zeitgenössischen polnischen Komponisten. Das möge vielleicht verwundern, fügte Wielecki sogleich hinzu, aber Chopin, der Klavier-Komponist par excellence, die Epoche der Romantik seien Teil der polnischen musikalischen Identität. So habe der „Warschauer Herbst“ in seiner diesjährigen Ausgabe auch Bezug auf das Chopin-Jubiläum nehmen müssen, mit den Installationen, mit einigen Auftragswerken, die Motive aus Chopin-Werken einbeziehen sollten. Man kann tatsächlich – so modern, so elektronisch, so technisch manche neuen Werke sein mögen – bei vielen polnischen Komponisten einen gewissen „romantischen Gestus“ spüren, so etwa bei „Listy“ (Briefe) von Zygmunt Krauze aus dem Eröffnungskonzert, oder auch bei „a piu corde“ (für mehr Saiten) für Klavier und acht Harfen von dem 1954 geborenen Paweł Szymanski. Das Stück wurde in einer Fabrik aufgeführt, in der Mitte der Pianist, im Raum verteilt rundherum die acht Harfen, es war fast dunkel im Saal. Von dem Werk und vom Ambiente ging eine sehr poetische Stimmung aus.

Einen poetischen Zauber ganz anderer Art vermittelte ein Werk, das keinen direkten Bezug zum Festival-Thema „keys“, Tasten, hatte: „Hiérophanie“ des kanadischen Komponisten Claude Vivier, für Sopran und Ensemble. Ein Stück mit szenischen Aktionen, die theatralisches, schauspielerisches Potenzial von den Musikern verlangen. Das Ensemble „musikFabrik“ aus Köln mit über zehn Musikern formierte bei dem etwa 40-minütigen Stück im Konzertsaal des Polnischen Rundfunks die unterschiedlichsten Choreographien. Es bildeten sich Laokoon-artig verschlungene Skulpturen aus einigen Musikern, andere kauerten auf dem Boden, zuweilen spielte man auch aus dem Zuschauerraum heraus. Selten agierten Musiker mit einer solch fantastischen Bühnenpräsenz. Einer der Höhepunkte des so facettenreichen „Warschauer Herbstes“.

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