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Auf der Harley Davidson durch Bachs Toccata

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In der Schweizer Orgelbaufirma Kuhn entsteht die Orgel für Essens neue Philharmonie · Von Thomas Otto
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Noch klafft an der Stirnseite des Alfried-Krupp-Saales über der hell getäfelten Bühne, oberhalb der Tribüne eine Lücke. Schon bald jedoch wird sie geschlossen. In schöner Harmonie mit der Ausstattung des Saales wird sich dann in die Höhe recken, was zugleich auch ein unverwechselbares akustisches Markenzeichen der Philharmonie Essen sein wird: die neue Konzertorgel.

Ihr Geburtshaus, die Orgelbaufirma Kuhn, ist in dem kleinen Schweizer Ort Männedorf am Züricher See gelegen. Hierher hatten die Schweizer kürzlich zu einer Visite geladen. Unter den Gästen waren Intendant Michael Kaufmann, sowie Dr. Ulrich Unger von der Alfred und Cläre Pott-Stiftung, die sich die Förderung von Wissenschaft, Kunst und Kultur, von kirchlichen und sozialen Zwecken zur Aufgabe gemacht hat. Durch ihr finanzielles Engagement wurde die Idee einer neuen Orgel für die Essener Philharmonie überhaupt erst zur Realität. Auch die Organisten Eckart Manz von der evangelischen Kreuzeskirche und Jürgen Kosara von der Essener Domkirche wollten sich den Blick in die Werkstatt nicht entgehen lassen. Beide gehören der Orgelkommission an, die im Vorfeld berufen wurde, um Konzeption und Auftragsvergabe vorzubereiten.

Es ist heiß in der kleinen Schmiede. Immer wieder wird das flüssige Zinn im Kessel über der Feuerstelle gerührt und schließlich mit einer langen, golden glänzenden Kelle in ein kleineres, fahrbares Becken geschöpft, während im Raum nebenan die Vorbereitungen für den Guss getroffen werden. Noch fällt es schwer, sich das vorzustellen, aber hier entstehen Orgelpfeifen...

Arbeitsalltag in der Gießerei, einer der vielen Werkstätten der Orgelbauer von Männedorf. Wir verlassen die Gießerei und folgen Dieter Utz, einem der drei Geschäftsführer, verantwortlich für die Gesamtleitung und den Bereich Orgelpflege, auf seinem kurzen historischen Exkurs durch die Geschichte der Firma Kuhn.

Seit 1864, als Firmengründer Johann Nepomuk Kuhn in seiner Werkstatt am Züricher See die erste Orgel baute, entstanden bis heute etwa 1.400 neue Instrumente. Das sind durchschnittlich zehn pro Jahr. „Es gab Zeiten, da war der Ausstoß wesentlich höher“, erzählt Dieter Utz. „Nach dem Krieg zum Beispiel war die Nachfrage so groß, dass hier bis zu 20 Orgeln jährlich gebaut wurden.“ Seit jener Zeit etwa gehört auch das Restaurieren zur Produktionspalette der Firma Kuhn. „Bei der Restaurierung“, erklärt Dieter Utz, „soll die historische Substanz erhalten bleiben und gleichzeitig eine musikalisch überzeugende Funktion der Instrumente gewährleistet werden.“ 125 Orgeln wurden bislang mit diesem hohen Anspruch wieder hergerichtet.

Ein weiterer Service, den die Firma bietet, ist die Orgelpflege. Betreut werden Instrumente aller Stile und Trakturaten. Ziel ist eine langfristige Werterhaltung „Da denken wir wirklich in Jahrzehnten“, schmunzelt Utz. „Ich hab manchmal das Gefühl, wir sind in der heutigen Zeit damit völlig weltfremd...“

In den letzten vierzig Jahren wurde das Orgelbauunternehmen über die Landesgrenzen hinweg aktiv: inzwischen spielt man in Portugal, Norwegen, Holland, Italien oder Südtirol sogar in der Tokioter Opera City Concert Hall auf Kuhn-Orgeln. Heute hat die Firma 50 Mitarbeiter, darunter Orgelbauer von verschiedenen Fachbereichen wie Neubau, Pflege, Intonation, drei Orgelbaumeister, Zinnpfeifenmacher, Zimmerleute. Natürlich denkt man in Männedorf auch daran, das Gewerk am Leben zu erhalten – zum Team gehören auch fünf Lehrlinge.

Die nächste Station unseres Rundgangs ist die Montagehalle. Hier wächst das Gerüst der neuen Orgel. Der Spieltisch ist bereits angebracht, die ersten Holzpfeifen sind montiert. Schon bekommt man eine Ahnung von der Größe des Instruments, die lapidar mit 300 Kubikmetern beziffert wird. Dieter Rüfenacht, der zweite Geschäftsführer, in dessen Händen die Verantwortung für den Orgelneubau liegt, macht uns mit dem Klangkonzept der zukünftigen Essener Orgel vertraut: es wird zuallererst entwickelt, um sich dann wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit zu ziehen. Nicht die architektonische Gestalt der Orgel steht am Anfang, sondern die Idee von ihrem Klang.

Dazu braucht es Experten. Das sind zumeist Organisten mit ihren ganz konkreten Erfahrungen, aus denen sie ihre Ansprüche formulieren. „Wir Orgelbauer wiederum haben unsere Idealvorstellungen und Ideen“, erklärt Dieter Rüfenacht.

Die jahrhundertealte Entwicklung der Orgel brachte ganz verschiedene Stile hervor: französische Klassik, französische Romantik, deutsche Klassik, deutsche Romantik – es gibt die epochalen Unterschiede ebenso wie die regionalen. „Man muss sich also zuerst darüber klar werden: wo wird die Orgel stehen, wozu soll sie vorrangig eingesetzt werden?“, meint Rüfenacht und ergänzt: „Was die kulturellen Unterschiede betrifft – wir hier, mitten in Europa, haben so eine gute Mischung aus allem und das hat auch Tradition bei uns.“

Bereits im Entwurf einer jeden Orgel, der auch schon erste Konturen erkennbar macht, müssen wichtige Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt werden: die Pfeifen müssen, sollen sie gut klingen, an einem ruhigen Ort stehen. Einmal gefertigt lassen sie sich nicht mehr variieren. Jede Pfeife bringt einen festen Ton hervor – sie alle zu einem harmonischen Miteinander zu vereinen, das ist die große Kunst.

In der benachbarten Zimmerei werden die Windladen und die Luftschächte für die Essener Orgel zusammengeleimt, die ersten Pfeifen werden intoniert, daß heißt, ihr Ton wird so verändert, dass er im Zusammenspiel aller Orgelpfeifen tatsächlich harmonisch klingt.

Der richtige Zeitpunkt, auf das Klangkonzept des hier entstehenden Instruments zu sprechen zu kommen: Die Essener Philharmonie bekommt eine sinfonische Orgel. Neben den vier Hauptwerken wird sie mit gleich zwei Schwellwerken ausgestattet, die eine sehr große Dynamik im Spiel zulassen, was die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten des Instruments enorm erweitert. Kuhn-Orgeln, betont Dieter Rüfenacht, sind Unikate.

Bei der Zusammenarbeit mit den Architekten gehen diese natürlich unbelastet von den Problemen der Orgelbauer an ihre Planung und Gestaltung. Für sie sind äußerliche Zusammenhänge vorrangig, etwa die gestalterische Einheit von Orgeln und Räumen. „Aber gerade deswegen arbeiten wir gern mit Architekten zusammen,“ bekräftigt Rüfenacht, „weil uns ihre unvoreingenommene Sicht manchmal vor Herausforderungen stellt, deren Lösungen uns neue Ideen abverlangen.“ Wie zum Beispiel die Essener Orgel.

Irgendwann stellte sich heraus, dass für das Tuba-Register kein Platz sein würde, weil die Orgel eine bestimmte Tiefe nicht überschreiten durfte. Was also tun, darauf verzichten? Unmöglich! Das Klangkonzept würde völlig aus den Fugen geraten. Die Lösung war so ungewöhnlich wie originell: man konzipierte das Register kurzerhand unter der Orgelbank, und zwar so, daß die Schalllöcher direkt ins Publikum weisen. – Das könnte sogar Einfluß auf die Frisuren der Orchestermusiker nehmen, witzeln die Männedorfer. Und auch der Organist käme auf seine Kosten: die Schwingungen seiner Bank könnten ihm durchaus das Gefühl vermitteln, Bachs Toccata und Fuge d-moll auf einer röhrenden Harley Davidson anzusteuern!

Wir sind zurück in der Gießerei. Inzwischen hat das Zinn im kleinen Kessel die richtige Temperatur erreicht. Zügig in eine spezielle Vorrichtung gegossen, kühlt es schon wenige Augenblicke später auf dem langen Tisch als dünnwandiges Blech aus. Wenn es später auf die richtige Stärke gebracht, gebogen und verlötet sein wird, dann ist dies eine weitere der 4.502 Pfeifen einer Orgel mit insgesamt 62 Registern und rund 2.500 verschiedenen Registermischungen. Aber zuvor sind noch viele Arbeitsschritte zu bewältigen, wie die Installation der Elektronik oder die Fertigung der Verkleidung.

Wenn sie dann schließlich in der Montagehalle komplett montiert und aufgebaut ist, wird die Orgel wieder in alle ihre Einzelteile zerlegt, die für den späteren Wiederaufbau genauesten registriert werden. Gut sortiert und verpackt wird die Orgel dann ihre erste und hoffentlich letzte Reise antreten: nach Essen, in den Konzertsaal der Philharmonie.

Zu den ersten, die „ihre“ neue Orgel dort in einem Konzert mit großem Orchester erleben, werden übrigens die Orgelbauer selbst gehören: die Firma Kuhn verlegt ihre Feier zum 140. Geburtstag von Männedorf nach Essen. So kommen auch gleich noch die Jubiläumsgäste auf ihre Kosten. Dergleichen, so Dieter Utz, sei eigentlich für eine Firma unerschwinglich. In diesem Fall haben sich die Männedorfer mit der Philharmonie geeinigt: ein Dankeschön für die exzellente Lösung mit der „Harley-Bank“, die sonst mit zusätzlichen Kosten verbunden gewesen wäre. In Essen ist man ebenfalls zufrieden. Intendant Michael Kaufmann: „Orgelbauer, Orgelgemeinde und die neue Orgel auf einem Fest – wir fanden den Vorschlag so unwiderstehlich, dass wir gar nicht anders konnten, als darauf einzugehen!“

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