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Splitterszenen aus der Literaturgeschichte: Sibylle Canonica und Stefan Hunstein in „danach“ mit einer Installation von rosalie. Foto: Charlotte Oswald
Splitterszenen aus der Literaturgeschichte: Sibylle Canonica und Stefan Hunstein in „danach“ mit einer Installation von rosalie. Foto: Charlotte Oswald
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Auf der Suche nach sich selbst: Das Stuttgarter Éclat-Festival als Forschungslabor

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Seit dreißig Jahren gibt es „Tage für Neue Musik“ in Stuttgart. Vor einigen Jahren gaben sie sich den effektvoll-mehrdeutigen Titel „Éclat“. Im Medienzeitalter reicht eine sachliche Bezeichnung nicht mehr aus. Ein Eklat erregt einfach mehr Aufmerksamkeit. Für die-se sorgte schon vor dem diesjährigen „Éclat“-Festival die so genannte Finanzkrise. Die Stadt Stuttgart muss sparen.

 Stuttgarts Kulturschaffende wurden aufgefordert, künftig nach einem bestimmten Prozentproporz knapp eine halbe Million Euro an sich selbst wegzustreichen. Die Kürzungen gingen auch an der Institution der „Musik der Jahrhunderte“ und deren Veranstaltungen nicht vorüber. Das alljährliche „Éclat“-Festival der Neuen Musik sollte zu einer Biennale schrumpfen, was nach heißen Diskussionen gerade noch verhindert werden konnte. Doch musste das bisher viertägige Neue-Musik-Festival um einen Tag verkürzt werden, was nicht unbedingt Existenz gefährdend zu sein braucht. Auch in drei Tagen lässt sich ein intelligentes Programm hineinpressen.

Lächerlich wird die Sparerei allerdings dann, wenn sie die berüchtigt-berühmten „peanuts“ eines namhaften Bankers streift: Der traditionsreiche, seit mehr als einem halben Jahrhundert an junge Komponisten vergebene Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart wird ebenso anteilmäßig wie alles andere gekürzt. Der Preis war bisher mit zwölftausend Euro dotiert. Was will man da noch kürzen, ohne sich der Pfennigfuchserei auszuliefern. Vor einigen Jahren hat die neue musikzeitung die Stadt Stuttgart wegen ihrer reichhaltigen Neue-Musik-Szene gelobt. Zeheleins Oper, das von diesem initiierte Forum Neues Musiktheater auf dem Römer-Kastell, das „Éclat“-Festival, der Südwestrundfunk mit seinem Sinfonieorchester und dem einmaligen SWR Vokalensemble, die engagierte Arbeit der „Musik der Jahrhunderte“ im neuen Theaterhaus – das alles ergab eine spannende Szene für die Zukunft der Musik. Davon ist leider manches inzwischen verkümmert. Die Oper unter Zeheleins Nachfolger wirkt eher derangiert, das Römerkastell-Forum ist aufgelöst, der Südwestrundfunk hat seine Beteiligung am „Éclat“-Festival“ dank der Weitkurzsicht eines früheren Intendanten eingestellt, wirkt gleichwohl mit Hilfe einer neuen Konstruktion weiterhin bei „Éclat“ mit. Für Komiker benötigt man heute keinen Zirkus mehr, die-se sind in unseren Alltag integriert.

Das „Éclat“-Festival gehört von Beginn an zu den wichtigsten Stätten der Neuen Musik. Seine Gründer verfolgten das Ziel, aus Stuttgart ein zweites Donaueschingen zu machen. Eine bloße Kopie ist Stuttgart gleichwohl nicht geworden. Während in Donaueschingen unverändert das große Orchesterwerk im Zentrum steht, entwickelte sich das „Éclat“-Festival, besonders in den letzten Jahren unter seinem künstlerischen Leiter Hans-Peter Jahn, zu einem Forschungslabor für neues Musiktheater – wenigstens ein kleiner Trost für das vergangene Musik-Theater-Forum der Stuttgarter Oper. Komponisten und Theatermacher können hier bei „Éclat“ spezielle Konzepte entwickeln und in szenische Realität umsetzen.

Diesmal griff man auf ein bereits vorliegendes Werk zurück, auf Beat Furrers vor zehn Jahren in Graz eher halbszenisch uraufgeführtes Musiktheater „Begehren“. Jetzt in Stuttgart präsentierte sich das Werk im größten Spielraum des Theaterhauses fast als „Große Oper“. Die Künstlerin „rosalie“ türmte knapp vierzig große Lichtquader zu einer zerklüfteten Burg-Felsen-Landschaft auf die Szene. Das Orchester (das Ensemble Modern) saß links vorn (siehe dazu unser Bild auf der Titelseite), dahinter erhob sich der Chor (das SWR Vokalensemble). Auf den Lichtquadern, die in den verschiedensten Farbkombinationen aufleuchteten, standen verteilt einige Akteure, eine Sängerin und ein Sprecher, die die von Beat Furrer ausgewählten Texte, unter anderem von Pavese, Eich, Broch, Ovid und Vergil, sowie die für Stuttgart neu hinzugetretenen Briefstellen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan, vortrugen.

Das von Furrer und seinem Mitautor Wolfgang Hofer verfasste Libretto greift den Mythos von Orpheus und Eurydike auf, jedoch nicht in Erzählform, sondern als breites Assoziationsfeld in zehn Szenen, in denen die thematischen Reflexionen der genannten Dichter verarbeitet werden. Die beiden Figuren, ER und SIE, befinden sich auf der Suche, streben zueinander, entfernen sich wieder, tauchen in Erinnerungen, blicken in eine Zukunft, die unsere Zeit ist. Es ist die Suche des modernen Menschen nach sich selbst, die hier verhandelt wird. Furrers „Begehren“ besitzt eine äußerst dichte, quasi tiefenpsychologische Struktur, zu der in der Musik eine ebenso raffiniert ausgearbeitete zweite „Sprachebene“ tritt. Furrers Musik entfaltet ihren differenzierten, faszinierenden Klangreichtum aus engster Verknüpfung mit dem sprachlichen Ausdruck, überführt Bewegungen des Textes in komponierte Bewegungen.

Das hört sich irgendwie abstrakt an, ist es aber nicht. Das Neue Musiktheater bewegt sich immer konsequenter aus dem narrativen Gestus der traditionellen Oper hinweg, zielt auf eine Art neues Gesamtkunstwerk, in dem Textbedeutung, Klanggestaltung, Raum und Licht zu einer Einheit verschmelzen. Das Werk gewinnt eine gleichsam plastische Form, eine bestimmte „Aura“, die man, wenn man so will, wie eine bildnerische Plastik von allen Seiten betrachten kann.
Diese „Aura“ kann natürlich auch durch die szenische Realisierung erzeugt und verstärkt werden. Die von Thierry Bruehl inszenierte Stuttgarter Aufführung bewirkt die auratische Verdichtung durch rhythmisierte Hell-Dunkel-Effekte und die Lichtkurven, die von den Leucht-Quadern „rosalies“ beschrieben werden, analog zu den inneren Bewegungsverläufen von Text und Musik. Musikalisch stand die Aufführung auf höchstem Niveau. Was Beat Furrer als Dirigent von Ensemble Modern und SWR-Vokalensemble an Klangfinessen aus seiner Musik herauszauberte, grenzte schon ans Unglaubliche.

Als eine Art Satyrspiel zum „Begehren“ folgte, ebenfalls erdacht von Wolfgang Hofer, das Stück „danach“, klassifiziert als „Splitter-Szenen aus der Literaturgeschichte“, für zwei Schauspieler, mit montierter, collagierter und manipulierter Musik aus Kompositionen der Musikgeschichte. Für die szenische Umsetzung wurden „rosalies“ Licht-Quader zu einem rechteckigen Block zusammengeschoben (siehe unser Foto). Wenn „danach“ eine Satire auf unsere Häppchen- und Kürzel-Kultur sein wollte, so fehlt es dieser doch ein wenig an Griffigkeit. Als Abbild des BIT-Zeitalters hat „danach“ aber eine gewisse Stimmigkeit.

Neben den theatralischen Beiträgen brachte „Éclat“ in fünf Konzerten viele interessante Werke zur Aufführung, die das weite Spektrum heutigen Komponierens abbildeten. Nikolaus Brass hatte für das Festival zwei Musik-Sprache-Stücke zur Uraufführung mitgebracht: „Lautschrift“ für einen Solo-Schlagzeuger (eindrucksvoll Franz Bach) und „Nachschrift“ für Viola und Violoncello (Klaus-Peter Werani/Hanno Simons). In der schon vor fünfundzwanzig Jahren entstandenen „Lautschrift“ spricht der Schlagzeuger einen Satz aus Günther Anders’ „Lesebuch“ in sein Spiel: „Der Ernst so genannter ernster Kunst ist im Vergleich mit dem Ernst der Situation, in der wir leben, das heißt in der Situation nicht nur nach einer Katastrophe, sondern in der Situation der mit Wahrscheinlichkeit kommenden Katastrophe, ein verspielter Ernst, ein nicht ernst zu nehmender Ernst.“ Nikolaus Brass’ Komponieren verliert nie eine spezielle gesellschaftliche, man kann auch sagen: menschliche Komponente aus dem Blick, wenn auch, wie hier, das Musikalische letztendlich die Dominanz behauptet. So ganz einfach ist es mit dem Ernst in der Kunst nicht – es ist ein anderer überhöhter Ernst, der aus ihr spricht, der vor allem der Wahrheit näher ist als der Ernst der Wirklichkeit. Nikolaus Brass weiß das natürlich. Sein Komponieren gewinnt immer noch an Plausibilität, Dichte, auch an einer sprechenden „Schönheit“, die aus der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks aufleuchtet: die „Nachschrift“ ist dafür ein signifikantes Beispiel.

In dem Brass-Konzert erfuhr auch Helmut Lachenmanns revidierte Fassung von „… got lost …“ durch die Sopranistin Elisabeth Keusch und die Pianistin Yukiko Sugawara eine perfekte Darstellung. Lachenmanns Kunst, Texte (hier von Nietzsche, Pessoa sowie ein trivial-komödiantischer Text aus einer Annonce) aus ihrer Bedeutsamkeit zu befreien und als Spielmaterial mit Musik zu verbinden, gewinnt hier eine wunderbare Heiterkeit. Eine solche möchte man auch Georges Aperghis’ „parlando“ für einen Solo-Kontrabass attestieren: Uli Fusseneggers „sprechende“ Virtuosität faszinierte.

Dass Pier Paolo Pasolini unverändert eine große Faszination auf gegenwärtige Komponisten auszuüben vermag, dokumentierte ein Pasolini-Projekt der Neuen Vokalsolisten Stuttgart, die vier Werke zur Uraufführung brachten, drei davon auf Poesie von Pasolini: Claus-Steffen Mahnkopfs „void – un delitto italiano“ für sechs Stimmen, Evdokija Danajloskas „Canto civile“ für Vokalsextett, Johannes Schöllhorns fünf  „Madrigali a Dio“ sowie Saed Haddad „Love Requiem“, der die Requiemtexte ihrer christlichen Komponente enthebt, sich aus der Sicht arabischer Liebeslyrik allgemeinen Themen wie Liebe, Tod, Exil oder Entfremdung zuwendet.

Ein berührendes Wilhelm Killmayer-Porträt gestalteten der Tenor Markus Schäfer und der Pianist Siegfried Mauser. Lieder aus den letzten fünfundzwanzig Jahren, darunter als Uraufführung der „Gesang des Alkaios“, den Killmayer gerade komponiert hat: ein Lied von tiefer Empfindung, sehr persönlich im Ausdruck, nach Innen gewandt. Markus Schäfer sang alles mit klarer Diktion und durchdringender Gestaltungskraft. Siegfried Mauser exzellierte in Killmayers „Douze Etudes transcendentales“ für Klavier solo.

Im abschließenden Konzert des SWR-Radio-Sinfonieochesters unter Jean Deroyer überzeugte vor allem Philippe Manourys „Synapse“ für Violine und Orchester durch die Brillanz, mit der er Solo-Instrument (grandios Hae-Sun Kang, die Geigerin des Ensemble Intercontemporain) und Orchestersatz klanglich und gestisch reich facettiert miteinander verknüpfte. Markus Hechtles „Szene im Dunkel“ für Orchester inklusive einem Gitarristen und einer Solo-Harfe wirkte danach ein wenig robust und eindimensional, in seinen Verkürzungen fast wie eine Verweigerung. Zu Beginn des Konzerts wurde Daniel Smutnys „Velouria“, Madrigalbuch für 24 Stimmen, vom wie gewohnt superperfekten SWR Vokalensemble uraufgeführt.

Smutnys harmonische Dispositionen sind gar nicht einmal weit von Killmayers Kompositionen entfernt. So ergaben sich innerhalb des „Éclat“-Programms auch interessante Querverbindungen. Smutnys Klangverdichtungen zeichnen sich zugleich durch eine weit gespannte Verräumlichung aus. Smutny gehört zu den jungen Komponisten, von denen man in Zukunft noch Spannendes erwarten darf.

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