Banner Full-Size

Aufatmen in der Bildungspolitik?

Untertitel
Ergebnisse der IGLU-Studie vorgestellt · Von Gabriele Schulz
Publikationsdatum
Body

Als am 8. April 2003 in Berlin gemeinsam von der Präsidentin der Kultusministerkonferenz Staatsministerin Wolff aus Hessen und der Bundesbildungsministerin Bulmahn die Ergebnisse der IGLU-Studie vorgestellt wurden, war ein Aufatmen in der Bildungspolitik zu vernehmen. Anders als noch in der im letzten Jahr vorgelegten PISA-Studie, der internationalen Untersuchung zur Lesekompetenz, zu Mathematik und Naturwissenschaften der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, schnitten deutsche Grundschülerinnen und -schüler in der Internationalen Grundschul-Untersuchung (IGLU) deutlich besser ab.

Untersucht wurde in der IGLU Studie die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe. Zusätzlich wurde in der Erweiterungsuntersuchung IGLU-E, an der Schulen aus zwölf Bundesländern teilnahmen, die Leistungen in Mathematik, Naturwissenschaft und Orthographie untersucht. Mit der IGLU-Studie liegen für Deutschland erstmals bundesweite, international vergleichbare Daten zu den getesteten Leistungen von Grundschülerinnen und -schülern im Übergang zur Sekundarstufe I vor.

Die Studie bestand aus einem Test, der ergänzt wurde durch einen Schülerfragebogen, Fragebögen für Lehrer der Fächer Deutsch, Mathematik und Sachkunde, einen Elternfragebogen sowie einen Schulleiterfragebogen.

Im Lesekompetenztest wurde so- wohl die Kompetenz im Umgang mit literarischen Texten als auch mit Sachtexten getestet. Die Auswertung der zusätzlichen Fragebögen erlaubt vertiefende Aussagen zum Fachinteresse, zur Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler, zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und den Chancen Lesekompetenz zu erwerben. Außerdem bietet sie die Möglichkeit die Schulorganisation der teilnehmenden Länder in Bezug zum Abschneiden der Schülerinnen und Schüler zu setzen.

Die Testorganisation war von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) vorgegeben. Die IEA hatte be-reits in der Mitte der 90er-Jahre die internationale Vergleichsstudie zu Ma-thematik und den Naturwissenschaften TIMSS verantwortet. International läuft IGLU unter dem Namen Progress on International Reading Literacy Study (PIRLS). In jedem der 35 Teilnehmerstaaten ist ein so genannter National Research Coordinator (NRC) für die Durchführung und Leitung der Studie verantwortlich.

Mitglieder des Konsortiums

In Deutschland oblag diese Verantwortung Wilfried Bos (Lehrstuhl für Quantitative Methoden und Internationale Bildungsforschung am Institut für International und Interkultu- rell Vergleichende Erziehungswissenschaft des Fachbereiches Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg). Weiter gehörten dem nationalen Konsortium an: Manfred Prenzel (Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Renate Valtin (Lehrstuhl für Grundschulpädagogik am Institut für Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin), Gerd Walther (Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik am Mathematischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel). Die Arbeit wurde begleitet durch einen wissenschaftlichen Beirat.

Für die Ergebnisse konnten die Fragebogen und Tests von 211 Schulen der 214 teilnehmenden Schule aus dem ganzen Bundesgebiet genutzt werden. Damit wurden in Deutschland 98 Prozent der erhobenen Daten in die Auswertung einbezogen. Gemessen wird mit IGLU die Lesekompetenz im Sinne der Fähigkeit, „Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewältigung praktisch bedeutsamen Verwendungssituationen einsetzen zu können“ (W. Bos, E.-M. Lankes, M. Prenzel, K. Schwippert, G. Walther, R. Valtin (Herausgeber): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster, New York, München, Berlin 2003, Seite 73). Analog hierzu wird in IGLU-E ein naturwissenschaftliches beziehungsweise mathematisches Grundverständnis, dass zur Teilhabe an einer zunehmend durch Technik geprägten Welt befähigt, getestet. IGLU und IGLU-E können also Aufschluss über die Grundbildung in den genannten Fachbereichen am Ende der Grundschulzeit liefern. Sie geben keine Auskunft über die Qualität der Grundschule allgemein.

Das positive Ergebnis der IGLU-Studie nach dem Schock der PISA-Studie war, dass deutsche Grundschülerinnen und -schüler den Vergleich mit ihren Altersgenossen aus anderen Ländern nicht zu scheuen brauchen. Die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler liegen sowohl in der Lesekompetenz als auch in Mathematik und Naturwissenschaften im oberen Drittel der Vergleichsstaaten.

Ungenutzte Potenziale

Umso schockierender erscheinen vor diesem Ergebnis die Ergebnisse der PISA-Studie, die die deutschen Schülerinnen und Schüler auf die hinteren Plätze verwiesen hat. Den Grundschullehrerinnen und -lehrern gelingt es nicht nur, den Schülerinnen und Schülern die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, sie vermögen dieses vor dem Hin- tergrund heterogener Lerngruppen. Die Primarstufe ist jene Schulstufe, in der leistungsstarke und leistungs- schwache Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Erst im Übergang zur Sekundarstufe I erfolgt in Deutschland eine Differenzierung der Schülerschaft hin zu den erwünschten homogenen Lerngruppen im dreigliedrigen Schulsystem.

Zwar zeichnet sich auch am Ende der Grundschullaufbahn bereits eine Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern ab, deren Lesekompetenz nicht ausreichend ist, doch ist die- se Gruppe im Vergleich zur PISA-Untersuchung vergleichsweise klein. Ihr Vorhandensein gibt aber den Hinweis, dass bereits in der Grundschule Schülerinnen und Schüler noch gezielter im Lesen gefördert werden müssten.

Eine verbesserte Förderung müssten aber nicht nur die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler erhalten. Dieser Befund gilt gleichermaßen für die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler. Hier bestehen nach Aussage der Autorinnen und Autoren noch ungenutzte Potenziale. Erfreulich an den Ergebnissen der IGLU-Studie ist, dass deutsche Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu den Altersgenossen anderer Staaten Kompetenzen im Lesen erworben haben, die sich über literarische und Sachtexte gleichmäßig erstrecken. In anderen Staaten klaffen die Ergebnisse, was die Textsorten anbelangt auseinander, das heißt, dort wird teilweise einseitig das Lesen fiktionaler oder nichtfiktionaler Texte in den Vordergrund ge-stellt. Auf der Haben-Seite kann eben-falls verbucht werden, dass die Leseleistungen von Mädchen und Jungen annähernd gleich sind. Zwar schneiden Mädchen im Lesen literarischer Texte etwas besser ab als Jungen, doch sind die Unterschiede keines-falls vergleichbar mit den gravierenden Unterschieden in der Lesekompetenz der 15-jährigen Jungen und Mädchen der PISA-Studie.

Jungen und Mädchen aus der Stichprobe der IGLU-Studie gaben gleichermaßen an, gerne zu lesen oder aber auch gerne am Sachkundeunterricht teilzunehmen. Daraus folgt, dass die geschlechtsspezifischen Zuweisungen „Mädchen sind gut in Deutsch“ und „Jungen sich gut in Mathematik und Naturwissenschaft“ nicht ohne weiteres bestätigt werden. Auch wenn eine stärkere Affinität der Mädchen zum Lesen und der Jungen zu Mathematik und Naturwissenschaft bereits im Übergang zur Sekundarstufe I festzustellen ist.

Die Leistungspotenziale der Grundschülerinnen und -schüler wurden von Lehrplanexperten der Bundesländern in allen getesteten Fächern geringer eingeschätzt, als sie tatsächlich waren. Das heißt, sowohl die Experten für die Grundschulzeit als auch Experten für die Sekundarstufe I trauten den Schülerinnen und Schülern weniger zu, als sie tatsächlich konnten. Die Autorinnen und Autoren der IGLU-Studie mahnen daher mehr pädagogischen Optimismus für die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Grundschülerinnen und -schüler an. Sie vertreten die Auffassung, dass angemessenere Leistungserwartungen an deutsche Schülerinnen und Schülern dazu beitragen können, einer erheblich größeren Anzahl an Schülerinnen und Schüler qualifiziertere Schulabschlüsse zu ermöglichen.

Ein großes Fragezeichen steht nach den vorliegenden Ergebnissen der IG-LU-Studie hinter der Frage, was in der Sekundarstufe I mit den Schülerinnen und Schülern geschieht. Anders als in anderen Ländern, in denen deutliche Lernfortschritte zu bobachten sind, so dass sich mitunter von einem unteren Platz in der Rangliste der IGLU-Teilnehmerländer ein gehobener Platz in der Rangliste der PISA-Teilnehmerländer emporgearbeitet wird, schneiden in Deutschland die 15-Jährigen im internationalen Vergleich deutlich schlechter ab, als es am Ende der Primarstufe zu erwarten gewesen wäre. Die bereits im Rahmen der PISADiskussion aufgeworfene Frage nach dem Nutzen einer frühen Differenzierung der Schülerinnen und Schüler in einem dreigliedrigen Schulsystem muss im Lichte der IGLU-Ergebnisse erneut betrachtet werden. Denn offensichtlich gelingt es weder den Hauptschulen die vergleichsweise leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler entsprechend zu fördern, noch den Gymnasien relativ leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zu höheren Leistungen zu motivieren. Die Autoren der IGLU-Studie resümieren, dass „das Ziel der frühzeitigen (externen) Differenzierung, nämlich Leistungsschwache und Leistungsstärkere durch Trennung in verschiedene Schulformen optimal zu fördern und weiterzuentwickeln, für den Bereich des Leseverständnisses verfehlt wird“ (Bos, W. et al., Seite 137).

Stand der Lehrerausbildung

Aufgeworfen wird durch die IGLU-Studie erneut die Frage der Lehrerausbildung. Die Ausbildung der Grundschullehrerinnen und -lehrer, auf die von den Fachkollegen der Sekundarstufe I und II oftmals herabgesehen wird, qualifiziert offenbar in stärkerem Maße dazu, mit heterogenen Lerngruppen umzugehen und möglichst vielen Schülerinnen und Schülern am Ende der Primarschulzeit adäquate Kompetenzen im Lesen, in Mathematik, Sachkunde und Orthographie zu vermitteln. Über die Gründe kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Die stärkere Ausrichtung des Studiums auf den späteren Arbeitsplatz Schule sowie ein Selbstverständnis, das neben der Vermittlung von Fachwissen erzieherische Kompetenzen einschließt, tragen sicherlich dazu bei, dass Grundschullehrerinnen und -lehrer den Kindern die erwarteten Qualifikationen besser vermitteln können.

Verstärkt stellt sich nach der IGLU-Studie die Frage nach bundesweiten Bildungsstandards. Insbesondere in der Teilstudie zur Orthographie zeigte sich, dass keine verbindlichen Standards darüber existieren, in welcher Klassenstufe welche orthographischen Kenntnisse erwartet werden. Dieses steht im krassen Gegensatz zur hohen Wertschätzung, die die Rechtschreibung in unserer Gesellschaft erfährt. Die vermehrte Aufmerksamkeit, die dem Lesen als Teilbereich der kulturellen Bildung seit Erscheinen der PISA-Studie geschenkt wird, wird durch die IGLU-Studie bestätigt. Gerade bei jüngeren Kindern besteht eine große Bereitschaft sich mit literarischen, aber auch mit Sachtexten aus-einander zu setzen. An dieser Bereitschaft und Neugier gilt es, in der weiterführenden Schule anzuknüpfen und fächerübergreifend das Lesen zu fördern. Ein Anliegen, das die Stiftung Lesen bereits 1988 in der ersten Ausgabe der Konzeption Kulturelle Bildung des Deutschen Kulturrates formuliert hat und in ihrer Arbeit konsequent verfolgt.

Dass das Leben nicht nur aus Schule besteht, wird durch die IGLU-Studie erneut bestätigt. Soziale und kulturelle Faktoren spielen eine entscheidende Rolle für den künftigen Lernerfolg von Kindern. So zeichnet sich bereits in der Grundschule ab, dass Migrantenkinder Schwächen im Bereich Lesen aufweisen und einer stärkeren Förderung bedürfen. Der seit der PISA-Studie öffentlich debattierte Handlungsbedarf wird also durch IGLU noch einmal unterstrichen. IGLU zeigt auch auf, dass die Erfolge von Müttern als „Hilfslehrer“ mit einem Fragezeichen versehen werden müssen. IGLU-E belegt, dass rechtschreibschwache Kinder länger an den Hausaufgaben sitzen und häufiger mit ihren Mütter üben als andere.

Sie sind dennoch schwach in der Orthographie. Die Autoren der IGLU-E-Studie verweisen nachdrücklich darauf, dass Mütter nicht zu Nachhilfelehrern ausgebildet sind. Die Diskussion um die Ganztagsschule wird durch IGLU wahrscheinlich neue Schubkraft bekommen. Zu wünschen ist, dass dabei vermehrt das gemeinsame Lernen von Kindern verschiedener Leistungsstärken ebenso stärker in den Blick rückt wie der Erziehungsauftrag in einer ganztägigen Betreuung. Die kulturelle Bildung kann hier einen wesentlichen Beitrag leisten.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!