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Glass Marcano leitet das Chineke-Jugendorchester beim Lucerne Festival, das in diesem Jahr unter dem Motto „Diversity“ stand. Foto: Patrick Hürlimann
Glass Marcano leitet das Chineke-Jugendorchester beim Lucerne Festival, das in diesem Jahr unter dem Motto „Diversity“ stand. Foto: Patrick Hürlimann
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Befreit euch, dekolonisiert euch

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Westliche Kunstmusiktradition und europäische Kolonialgeschichte
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Längst sind die Debatten der Postcolonial Studies auch in der neuen Musik angekommen. In welcher Gegenwart befindet sich die aktuelle Musik und wie könnte es gelingen, sie zu dekolonisieren? Versuch einer Bestandsaufnahme.

Schon jetzt ist die neue Musik an vielen Orten sehr vielgestaltig, offen und tolerant – wenn auch noch nicht überall gleichermaßen. Festivals, Konzerthäuser, Ensembles und Symposien haben sich auf verschiedene Weise damit auseinandergesetzt. Beispiele dafür sind das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk, das Essener NOW!-Festival, die Donaueschinger Musiktage im vergangenen oder die MaerzMusik in diesem Jahr. Bereits im Jahr 1980 veröffent-lichte die Neue Zeitschrift für Musik einen Artikel von John Rockwell, in dem Diversität als wichtiger Trend in der US-amerikanischen Musikkuration dargestellt wurde. Dieser Essay konzentriert sich allerdings nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart, auf den momentanen Stand der Dinge. Dabei postkoloniale wie dekoloniale Mechanismen in ihrer Gesamtheit zu zeigen, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, soll hier auf einige Punkte hingewiesen werden, die sich in Gesprächen mit Akteur*innen der Szene als besonders wichtig erwiesen haben – als Ermutigung, von hier aus weiterzuforschen.

Ein häufiges Missverständnis im Zusammenhang mit dem Begriff „postkolonial“ besteht darin, dass er oft zeitlich verstanden wird, als würde er die Phase beschreiben, nachdem sich ein Land von seiner Fremdherrschaft gelöst hat. Im Laufe der Nachkriegszeit wurden zwar die meisten ehemaligen Kolonien in die staatliche Souveränität entlassen, allerdings waren durch die politische Dekolonisation nicht die kolonialen Beziehungen mit einem Schlag beendet: Viele Abhängigkeitsverhältnisse, beispielsweise auf wirtschaftlichem Gebiet, dauerten fort – sie wurden seit den 1960er Jahren unter dem Begriff des Neokolonialismus diskutiert. Außerdem machten in vielen neu unabhängig gewordenen Staaten die Eliten eine Politik, die sich von der innerhalb der Kolonialzeit nur wenig unterschied. Postkolonial erschöpft sich also nicht in einem zeitlichen „danach“, das Wort zielt vor allem auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen. Es geht um eine Auseinandersetzung mit und eine Anfechtung von kolonialen Diskursen, Machtstrukturen und sozialen Hierarchien.

Aber was bedeutet das in Bezug auf zeitgenössische Musik? Darauf gibt es viele verschiedene Antworten. Der Komponist und Kurator meLê yamomo formuliert seine Sichtweise in deutlichen Worten: „An diesem Punkt stelle ich immer wieder fest, dass die zeitgenössische Musik keine zeitgenössische Musik ist. Stattdessen ist sie die Sackgasse der Evolution der westlichen Musik. Und zwar eine Sackgasse wegen ihrer Arroganz, auf die die zeitgenössische Musik immer noch besteht. Sie ist immer noch Teil des kolonialen Systems, das sich weigert, andere Systeme als gleichwertig zu betrachten.“ Auch wenn das Export- und Missionierungsbedürfnis der neuen Musik aus den 1950er Jahren mittlerweile überwunden scheint, ist die neue Musik nach wie vor in zahlreiche Fallstricke verheddert. Einer davon ist unsichtbar: Die Musikwissenschaftlerin und Komponistin Dana Reason hat dieses Phänomen den „Mythos der Abwesenheit“ genannt, erklärt der Musikwissenschaftler und Saxophonist Harald Kisiedu. „Der Begriff lässt sich sehr gut auf die Abwesenheit afrodiasporischer Komponist*innen anwenden – im Hinblick auf Konzertprogramme, im Hinblick auf die Geschichtsschreibung und das fast vollständige Fehlen eines Bewusstseins für afrodiasporische Musik und ihre Geschichte, die Teil der zeitgenössischen Musik ist.“ Auch wenn Kisiedu explizit von afrodiasporischer Musik spricht, kann der „Mythos der Abwesenheit“ ausgeweitet werden auf alle Musiktraditionen, die nicht den gängigen anerkannten innerhalb der Neuen-Musik-Szene entsprechen.

Ein weiterer blinder Fleck liegt dort, wo zwar die westliche Geschichtsschreibung nicht hinkommt, dafür aber der westliche Blick, beziehungsweise der westliche Kanon. „Daran sehen wir, dass der Kolonialismus wirklich global funktioniert, weil es eine ganze Geschichte der Wissensproduktion und der Schaffung einer bestimmten Ästhetik ist, die Europa immer den Vorrang gab. Und ein Großteil dieses Erbes ist überall auf der Welt verankert.“ meLê yamomo weiß mehr über den europäischen Kanon und die Biographien von europäischen Komponist*innen als über die seines Heimatlandes, dessen Nachbarländer oder von irgendeinem anderen Kontinent. Auch andere Komponist*innen, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, aus den Philippinen, Indonesien, Malaysia oder Chile berichten ähnliches. Dass so viele Menschen außerhalb der sogenannten westlichen Welt sich so stark, beinahe ausschließlich, mit der sogenannten klassischen westlichen Musik auseinandersetzen (müssen), resultiert aus dem vorherrschenden Denken, dass die westliche Musik angeblich mehr wert sei als die eigene.

Eine aktive Entlarvung, Offenlegung und Dekonstruktion kolonialer Verhältnisse – das will der Dekolonialismus: intervenieren durch Forschung oder Kunst. Dabei können Personen oder Kanons ebenso dekolonisiert werden wie Institutionen oder ganze Gesellschaften. Aber worauf kommt es dabei an? Natürlich Selbsterkenntnis: Zuerst müssen wir uns all der Fallstricke, Fettnäpfchen, Irrtümer und Unwissenheiten bewusst werden, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zu finden sind. Und dann? Musikwissenschaftler Harald Kisiedu sagt dazu: „Es geht um die Frage, inwiefern Leute bereit sind, nicht nur blinde Flecken anzuerkennen und sich einzugestehen, sondernauch ein Eingeständnis von Nichtwissen und davon, dass vielleicht die eigene ästhetische Autorität, die man für sich in Anspruch nimmt, doch nicht so umfassend ist. Es geht um ein Dazulernen-Wollen und die Perspektive oder den Horizont erweitern wollen.“

Komponist und Musikforscher Sandeep Bhagwati ergänzt: „Das ist die Aufgabe der Dekolonisation in der Neuen Musik: Bei aller Offenheit gegenüber allem sich der Tatsache zu stellen, dass anderen Leuten keine Identität aufgezwungen werden darf, nur weil sie einen bestimmten Namen oder irgendeine Herkunft haben.“ Ethnische Identität ist eine Wahl, sagt Bhagwati, genauso wie Geschlechtsidentität. Deshalb muss ich ganz alleine entscheiden dürfen, welche Einflüsse von wo mich und meine Arbeit ausmachen und auf wen oder was ich mich beziehe. Neue Musik soll sich, laut Sandeep Bhagwati, ganz neu aufstellen, sie braucht neue Entscheider*innen und neue Architekturen. Das ist zwar oft extrem langwierig und kleinteilig, aber notwendig: Strukturen müssen diversifiziert, Personengefüge noch mehr internationalisiert werden und damit auch Institutionen, Gremien, Jurys, Vorstände, Verlage, Berichterstattung – letztendlich der komplette Organismus der zeitgenössischen Musik.

Ein Schwenk nach England: Die Oxford-University kündigte vergangenes Jahr an, den Musiklehrplan dekolonisieren zu wollen. Das bedeutete unter anderem, dass afrodiasporische Musik ein fester Bestandteil des Lehrplans werden sollte. Daraufhin stellte ein Kritiker in der „Welt“ die rhetorische Frage: „Will man wirklich einfach […] Peter Tschaikowsky durch Miles Davis ersetzen?“ So ein Denken sei repräsentativ für einen gewissen Teil der Klassik- und sicherlich auch teilweise für die zeitgenössische Musikwelt, meint der Musikwissenschaftler Harald Kisiedu. Er warnt vor einem Backlash – auch aus der hiesigen Medienlandschaft. Ein weiteres Beispiel aus dem vergangenen Jahr: Der US-amerikanische Komponist George Lewis hatte mit dem Ensemble Modern ein Konzert und Symposium zum Thema „Afro-Modernism in Contemporary Music“ veranstaltet. Anschließend schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass es bei der Veranstaltung darum ginge, den „black sound“ zu finden. George Lewis meinte dazu auf VAN Outernational, einem Online-Magazin, das sich unterschiedlichen Musiktraditionen und postkolonialen Themen widmet: „Wir haben nie behauptet, dass wir versuchen, einen ‚black sound‘ zu definieren. Wir haben einfach sechs Schwarze Komponist*innen vorgestellt, die Musik geschrieben haben. Wir taten also etwas, das die Szene in Europa gerade nicht tat. Dieses Konzert vereinte afrodiasporische Perspektiven aus Europa, der Karibik, Großbritannien, den USA und Afrika, alles in einem Konzert.“ Dass der Musikkritiker in der FAZ trotzdem zu seiner Annahme kam, liegt daran, dass im gängigen Verständnis bestimmte klangliche Signifikanten existieren, anhand derer man glaubt, diese Einordnung machen zu können. Für nicht-markierte weiße Komponist*innen besitzen diese Signifikanten wiederum keine Gültigkeit. „Das ist eine sehr seltsame Vorstellung von Authentizität“, drückt Musikwissenschaftler Harald Kisiedu das sehr diplomatisch aus.

Ein Beispiel dafür, wo schon jetzt dekolonial gedacht und gearbeitet wird – in Deutschland wie in anderen Ländern –, ist das Projekt „Sounds Now“. Es ist ein Netzwerk von neun europäischen Musikfestivals und Kunstzentren, die zeitgenössische und experimentelle Musik fördern. Thorbjørn Tønder Hansen ist künstlerischer Leiter des Ultima Festivals in Oslo, das einer der Partner von Sounds Now ist. Er erzählt, warum dieses Netzwerk überhaupt entstanden ist: „Wir wollten gerne eine Veränderung innerhalb der Neuen-Musik-Welt in Europa herbeiführen. Unsere Vision ist, dass wir mit dem Sounds-Now-Projekt mehr Inklusion und Diversität in der Neuen-Musik-Szene Europas entwickeln können. Wir wünschen uns ihre Dekolonisierung.“

Sounds Now will Möglichkeiten schaffen, für mehr unterschiedliche Erfahrungen, Bedingungen und Perspektiven bei der Gestaltung von aktueller Musik. Und dafür fährt es auf mehreren Gleisen: Es gibt Labore für Kurator*innen, Lernprogramme von Künstlern, Komponistinnen und Experten, Symposien und Forschungsvorhaben. In Open-Space-Formaten können die Teilnehmenden selbst Themen setzen, über die gemeinsam nachgedacht wird. Außerdem werden neue Produktionen entwickelt. Thorbjørn Tønder Hansen nennt als Beispiel das Projekt „Voice Affairs“: „Wir haben dafür individuelle Solist*innen und Performer*innen im Raum von Ägypten bis zum Libanon eingeladen. Die Grundidee war, dass wir Projekte mit Komponistinnen und Komponisten in Europa und auch außerhalb Europas entwickeln wollten. In dem Fall sollten die Neue Vocalsolisten Künstler*innen außerhalb Europas treffen – im besten Fall sollte so ein Austauschprojekt entstehen.“

Voice Affairs war vergangenes Jahr bei den Darmstädter Ferienkursen zu hören – und enttäuschte die Autorin: Es war für sie nicht zu überhören, dass alle Komponist*innen einen Bezug zum Nahen Osten hatten. Das Konzert klang genau nach der Art von gewollt authentischer Musik, die man mit einer dekolonialen Perspektive doch eigentlich vermeiden will. Mit diesen Eindrücken konfrontiert, spricht Thorbjørn Tønder Hansen davon, dass alles sehr komplex sei: „Ich glaube, wir sind mit Sounds Now, aber auch in der Neue-Musik-Welt generell gerade in einer Art Entwicklungsphase. Diese Themen und deren Umsetzung sind noch nicht ganz etabliert.“

Thorbjørn Tønder Hansen plädiert für ein Trial-and-Error-Prinzip – ein wichtiger Punkt. Weil wir uns permanent in postkolonialen Strukturen bewegen, ist es logisch, dass Fehler gemacht werden. Entscheidend ist, sie als lehrreichen Teil des Entwicklungs- und Lernprozesses zu begreifen.

meLê yamomo ist künstlerischer Leiter des Festivals „Decolonize Frequencies“ in Berlin. Wie Thorbjørn Tønder Hansen ist auch ihm eine Fehlerkultur wichtig: „Das ist der Rahmen, den wir mit dem Festival anstreben“, sagt yamomo, „dass Scheitern ein Teil der Ästhetik ist. Indem wir scheitern, hoffen wir, dass wir in Zukunft bessere Wege finden, Dinge zu sagen und sie umzusetzen.“ Decolonial Frequencies ist eine Veranstaltungsreihe im Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße, das sich dezidiert Perspektiven von Queeren und Künstler*innen of Color widmet. Das Festival zeigt Performances, Konzerte oder Vorträge, die die zeitgenössische Kunstszene, etablierte Praktiken oder die Wahrnehmung von Musik kritisch hinterfragen. Viele der eingeladenen Künstler*innen sind Frauen of Color oder queere Musiker*innen of Color. „Wir brauchen diesen Raum als Teil der Dekolonisierung, denn anderswo ist er uns im Moment nicht erlaubt.“

In einem Interview auf VAN Outernational sprach meLê yamomo darüber, wie Kolonialismus klingt. Aber wissen wir das nicht längst? Er ist schließlich omnipräsent – in Konzerten, auf Festivals, in großen Ausrufezeichen wie in kleinen Details. Wir hören ihn quasi täglich in Dauerschleife. Ist es nicht viel wichtiger zu fragen, wie Dekolonisierung klingt?

Neue Musik ist eine Ressource, die alle nutzen können – also sollte sie auch für alle gleichermaßen zugänglich sein. Momentan gilt das aber nur für bestimmte Gruppen, alle anderen müssen in die Schubladen passen, die ihnen von außen zugewiesen werden. Akteurinnen und Akteure müssen ihre Wirkungsmacht nutzen, um diejenigen sichtbar zu machen, die momentan unsichtbar gemacht werden. Zum Beispiel müssen Räume geöffnet, Auftrittsmöglichkeiten, Kompositionsaufträge und Gelder angeboten werden. Und das stets intersektional. Alle Künstler*innen, die für diesen Beitrag befragt wurden, haben das Gefühl, dass wir uns gerade im Umbruch befinden, dass das Bewusstsein für postkoloniales Wirken und das Bedürfnis, aktiv an der Dekolonisierung mitzuwirken, wächst. Das macht Mut. Allerdings sollten wir uns nicht zu früh auf die Schultern klopfen. Der Weg ist noch sehr weit.

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