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Briefe an die Kollegen

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237 Mahler-Briefe, ausgewählt von Franz Willnauer
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Gustav Mahler: „Verehrter Herr College!“. Briefe an Komponisten, Dirigenten, Intendanten, hrsg. v. Franz Willnauer, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010, 424 S., € 24,90, ISBN 978-3-552-05499-8

Insgesamt 237 Briefe, Briefkarten, Telegramme und Kanzleischreiben Gustav Mahlers, verfasst vom Bad Haller Sommer 1880 bis März 1911 in New York, hat Franz Willnauer aus „mehreren tausend über die halbe Welt verstreuten Schriftstücken“ (S. 7) ausgewählt. Die beruflich motivierte Korrespondenz spiegelt Mahlers Existenz als Interpret, Komponist und Manager wider. Mahler spannte ein Netz zu Persönlichkeiten des Musik- und Theaterlebens ganz Mitteleuropas, das über die Doppelmonarchie und das Deutsche Reich hinausreichte in die Niederlande, nach Frankreich, England, Italien und Russland.

Die teils erstmals, oft an entlegener Stelle oder nur in Auszügen veröffentlichten Schreiben richten sich an Agenten und Intendanten, an komponierende Kritiker (Max Marschalk etwa) sowie Dirigenten und Komponisten. Willnauer zielt dezidiert darauf ab, auch längst vergessene Personen einzubeziehen wie Alfred Bruneau, dessen Oper „Le Rêve“ Mahler in Hamburg erstaufführte oder Sylvain Dupuis, der in Lüttich Mahlers „Zweite“ machte. Für die „einstimmig als so glänzend und congenial bezeichnete Aufführung“ spricht ihm Mahler seinen „tiefgefühlten Dank“ aus und bittet sogleich „um Entschuldigung, daß ich dieß nicht in Ihrer schönen Sprache thue, die ich zwar verstehe, aber nicht schreiben kann“ (S. 237). Willnauers so luziden wie konzise Kommentare, Zwischentexte und ein ausführliches Adressatenverzeichnis erleichtern die Lektüre der unverändert, ungekürzt und grundsätzlich in Mahlers Schreibweise wiedergegebenen Briefe.

Es fällt auf, wie einfühlsam und doch unnachgiebig Mahler von Anfang an sein berufliches Vorankommen in einem geschliffenen, über alle rhetorischen Figuren verfügenden Briefstil betreibt. Ab und an blitzt sein Humor auf, etwa wenn er den befreundeten Rechtsanwalt Emil Freund als „Lieber Freund!“ (S. 333) apostrophiert, einer der wenigen, die Mahler duzt. Strauss gegenüber beklagt er die „unausgesetzte[(n) Zurückweisungen“ seiner Partituren und kommt zum Schluss: „Die Weltgeschichte wird auch ohne meine Compositionen weitergehen!“ (S. 119).

Umfassend dokumentiert werden die beiden „Generalstabsunternehmen“, die Eroberung der Wiener Hofoper und die „mir fatale Barnum und Bayley-Aufführung“ (S. 342) der „Achten“ in München, die enorme Vor- und Mitarbeit auch von Bruno Walter und Franz Schalk erforderlich machte. Aus New York schreibt Mahler im Januar 1919 an Schönberg, er „lebe hier in einer schrecklichen Hetze“ (S. 378). Schon in Budapest und Hamburg war Mahlers Arbeitspensum immens. Um so mehr erstaunt, dass seine „Schreibleistung nahezu einzigartig in der Musikgeschichte der Neuzeit“ (S. 7) dasteht. 

Willnauer räumt ein, dass vermutlich „zentrale Mahler-Briefe“ fehlen und fragt, wo die 1921 von Franz Werfel erwähnten „Briefe an Brahms, Bruckner, Charpentier, Klimt geblieben“ (S. 13) sind. Dennoch bietet sich dem Leser ein eindrucksvoller Blick auf das kulturelle Leben im Fin de siècle. Gerade weil von Mahler weder Tagebücher noch eine Autobiographie vorliegen, sind seine Briefe so wertvoll. Diese Auswahl bereitet immenses Vergnügen und ist zugleich ein lohnender Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen.

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