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Das ganze Potenzial einer verbindungsstiftenden Disziplin

Untertitel
„Gestaltungsprozesse erfahren – lernen – lehren“: Symposion des Arbeitskreises Elementare Musikpädagogik in Stuttgart
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„Präsent sein“: Das Motto, das Charlotte Fröhlich über ihren Vortrag zu „Differenzierungs- und Gestaltungsprozessen aus dem musikalischen Jetzt“ gestellt hatte, wäre ohne weiteres als Notwendigkeit und Mahnung auf musikalische Fachdisziplinen im Allgemeinen und die Elementare Musikpädagogik (EMP) im Besonderen zu übertragen. Damit sei nicht blindem Aktionismus oder bloß geschmeidiger Öffentlichkeitsarbeit das Wort geredet, sondern zweierlei ausgesagt: Zum einen braucht ein in der akademischen Verankerung jüngeres Fach wie die EMP die Präsenz nach außen, um sich, statt in Legitimationszwänge zu geraten, als kompetenter Partner in bildungspolitisch stürmischen Zeiten anzubieten.

Zum anderen muss es sich nach innen, also denjenigen, die das Fach studieren, unterrichten und/oder praktisch „anwenden“, immer wieder in seiner Bandbreite, seinen Möglichkeiten und Zielsetzungen ins Bewusstsein rufen, was über das „Präsentieren“ hinausgehen und die Selbstbefragung, die Reflexion und somit die Weiterentwicklung miteinschließen muss. Das Gelingen eines Symposions wäre also auch daran zu messen, welche Präsenz sie dem Fach in diesem Sinne hat verleihen können. Zunächst aber zurück zu Charlotte Fröhlichs Vortrag, der einiges zur Sprache brachte, was für den Kongress des Arbeitskreises Elementare Musikpädagogik (AEMP) an der Stuttgarter Musikhochschule insgesamt Relevanz besaß. Bezug nehmend auf den Kulturanthropologen Jean Gebser und sein Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ machte sie dessen Überlegungen zur Geschichte menschlicher Bewusstseinsstrukturen für ihre praxisorientierten Betrachtungen musikalischer Gestaltungsprozesse im Elementarbereich fruchtbar.

Präsenzqualitäten

Aus den von Gebser unterschiedenen Strukturen des Magischen, des Mythischen und des Mentalen entwickelte sie „musikpädagogisch sinnvolle Interventionen“ für den Unterricht, indem sie jeder dieser Bewusstseinstrukturen eine Präsenzqualität mit spezifischen Eigenschaften zuordnete: der magischen die nicht vorhersehbare Qualität des Gebanntseins, der Zeitlosigkeit und der reinen Sinnlichkeit; der mythischen die Unterscheidung von Außen- und Innenwelt, das bewusste Spielen und das Aufgehen in der Gemeinschaft; der mentalen schließlich die Klarheit und Präzision, das Regelhafte und den Werkcharakter. Daraus abzuleitende Aufgaben in Unterrichtssituationen wären somit beispielsweise ein behutsames Aufbrechen der Vereinzelung in der magischen, das Differenzieren durch Wiederholung in der mythischen oder das graduelle Zulassen von Wettbewerb in der mentalen Präsenzqualität, immer freilich mit dem Bestreben, die Bewusstseinsschichten aufeinander zu beziehen, sich gegenseitig befruchten zu lassen. Dass auch ein solcher Vortrag „Gestalt“ annehmen kann, zeigten Studentinnen der Mannheimer Hochschule, die Fröhlichs Ausführungen mit drei kurzen Performances illustrierten.

Präsenz nach außen

Wie überhaupt der künstlerische Anteil des Faches EMP das Symposion auf beeindruckende Weise durchzog. Schon zur Eröffnung hatten Stuttgarter Studenten eine furiose Solo-Ankunftsszene mit Klavierbegleitung hingelegt; ausführlicher bot sich dann in der Abendveranstaltung Kommilitonen auch aus anderen Hochschulen Gelegenheit, das hohe Niveau ihrer instrumentalen und tänzerischen Ausbildung zu demonstrieren: Das allmähliche Formieren eines Ensembles zu Strawinskys „Tango“ thematisierte eine weitere Stuttgarter Aufführung, das Entstehen eines dadaistischen „netten Sonetts“ ein Beitrag aus Nürnberg; Studien zur Struktur des menschlichen Gehirns und die Umsetzung eines Wassergedichts von Ernst Jandl kamen aus Hamburg, intensive Duo- und Solonummern aus Freiburg, wiederum Stuttgart und Saarbrücken. Endgültig zum Toben brachte das Auditorium schließlich die quasi professionelle Formation „BodySounds“ aus Potsdam, eine sympathische Gruppe von Stimm- und Bodypercussionakrobaten mit perfektem Timing und brillanten Ideen für Arrangement und Bühnenaktion. Gut für die Präsenz nach außen, dass das Ganze im Rahmen der Stuttgarter Kulturnacht eine breite Öffentlichkeit erreichte.

Thema Ganztagsschule

Gut auch, dass eine Vertreterin des baden-württembergischen Kultusministeriums zumindest einen Teil der Tagung verfolgte. Sie dürfte sich vor allem für jene Beiträge interessiert haben, die den Aufgabenbereich skizzierten, den EMP-Absolventen schon heute abdecken und wo sie in Zukunft möglicherweise verstärkt gefragt sein dürften. So berichtete Christa Schäfer von den ersten Erfahrungen mit Ganztagsschulmodellen in Rheinland-Pfalz, wo bis zum Jahr 2006 auf diese Weise 20 Prozent der Schulen abgedeckt sein sollen. Bei den musikalischen Nachmittagsangeboten, für die sich die Schülerinnen und Schüler nach einer Probezeit für das ganze Schuljahr verbindlich entscheiden (sollten), spielen neben dem Instrumentalunterricht übergreifende Projekte eine wichtige Rolle, für die in der EMP Ausgebildete besonders gut präpariert sein dürften. Nicht umsonst werden beim Quereinstieg von der Musikschule ins Referendariat (bis Sekundarstufe I) Leiter/-innen Musikalischer Früherziehungsgruppen oft bevorzugt.

Das nicht zuletzt im Zuge der PISA-Diskussionen erstarkende Selbstbewusstsein des Faches reflektierte Michael Dartsch in seinem Vortrag „Erziehung zwischen Kunst und Künstlichkeit: Zur Bedeutung gestaltungsorientierter Bildungsarbeit“ und lieferte unter Vermeidung axiomatischer Voraussetzungen eine klare, dem Publikum offenbar hochwillkommene Beantwortung der Frage: „Wozu brauchen wir eigentlich Elementare Musikpädagogik?“. Unter Verweis auf die Musik als besondere und in ihrer speziellen Eignung für Bewusstseinsinhalte lebensnotwendige Form der Kommunikation arbeitete er deren Weitergabe in Gestalt von natürlicher, im Alltag vorgelebter „Präsentation“ als Grundbedingung musikalischer Erziehung heraus, um anschließend deren institutionalisierte Kehrseite zu erörtern: die in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen öffentlich oder privat „veranstaltete“ Präsentation von Musik, die er Bezug nehmend auf Klaus Mollenhauer als „Repräsentation“ bezeichnete. Im günstigen Falle könne die EMP dabei „so etwas wie eine Ersatz-Umwelt“ darstellen, in der das Lernen teilweise „natürlich“, das heißt, analog zum Lernen im häuslichen Umfeld weitgehend selbstgesteuert und ungezwungen, erfolgen könne.

Standortbestimmungen

Dartsch weiter: „Eine ähnliche Orientierung findet sich auch in der Pädagogik der Tageseinrichtungen. Auch und gerade nach dem PISA-Schock kann eine generelle Verschulung des Lernens im Sinne einer größeren Lebensferne der Lernangebote nicht angeraten sein, da sie den Willen zur Mitarbeit sowie Selbstdisziplin und Ausdauer für Tätigkeiten voraussetzt, die nicht primär der Motivation der Kinder entspringen.“ Überlegungen zu den in der institutionalisierten Musikpädagogik notwendigen Methoden und ein Plädoyer für die künstlerische Qualifizierung innerhalb der EMP-Ausbildung rundeten Dartschs Referat zu einer gerade in ihrer fundierten Nachdenklichkeit prägnanten Standortbestimmung des Faches.
Aus einer anderen Perspektive hatte eine solche auch die Sprecherin des AEMP, Juliane Ribke, in ihrem Eröffnungsvortrag vorgenommen: Unter dem Titel „In Verbindung sein – Fokus und Vernetzung Elementarer Musikpädagogik“ präsentierte sie das Fach unter Rückgriff auf Forschungsergebnisse aus Neurophysiologie und Entwicklungspsychologie sowie auf postmoderne Ansätze in der Ästhetik als „verbindungsstiftende Disziplin“, die Beziehungen zwischen Mensch und Musik, Musik und anderen Künsten, Menschen untereinander und dem Menschen und seinem Selbst herstellen könne. Dabei spiele der gestalterische Prozess eine entscheidende Rolle, weil er in einem schöpferischen Vorgang Grunderfahrungen in gestaltfähiges Material einbinde und transformiere.

Präsenz nach innen

Weitere Referate waren der „Inszenierung musikalisch-ästhetischer Erfahrungsräume in der EMP“ (Claudia Meyer) und der „EMP im Spannungsfeld der polyästhetischen Erziehung und Bildung“ gewidmet (Johanna Metz und Regina Pauls). Nicht alle Workshops und „exEMPla“ bezogen sich so unmittelbar auf das Kongressthema wie Juliane Ribkes eigene praktische Veranstaltung, in der die Gruppe aus subjektiven Assoziationen zum Thema „Vulkan“ eine Art geplante Improvisation mit Bewegungs- und Lautelementen gestaltete und diese auch reflektierte. Vielfach ging es verständlicherweise einfach auch um ganz allgemeine praktische Anregungen für die eigene Auseinandersetzung mit bestimmten Zielgruppen oder in speziellen Arbeitsbereichen. Geballte Präsenz nach innen also, hier nun in Gestalt motivierter und motivierender Dozenten/-innen, denen das Weitertragen ihrer Begeisterung für die Materie spürbar am Herzen lag. In dem durch Werner Rizzis animierende Einladung zum gemeinsamen Singen und eine konzentrierte Performance wieder höchst lebendigen Abschlussplenum der über 200 Teilnehmenden war noch einmal das Potenzial des Faches zu spüren, das sich in diesem ebenso fundierten wie energiegeladenen Kongress in jeder Hinsicht bestens präsentierte.

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