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Das musikalische Europa hat viele Namen

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Der 15. Kissinger Sommer ist eröffnet
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Wenn in diesen Tagen erneut laut über Sinn und Unsinn zentraler oder föderaler Kultursubvention nachgedacht wird, wenn namhafte Nachrichtenmagazine den Vorwurf eines Spektakel-Zwangs bei den Sommerfestivals erheben, so scheint es angebracht, Bedingungen und Bedingtheiten an Ort und Stelle, an Inhalten und Aussagen der Veranstaltungen zu überprüfen. Für den Kissinger Sommer 2000 sprechen zunächst die nüchternen Fakten: In vier Wochen, vom 15. Juni bis zum 16. Juli 2000, wird das Publikum Gelegenheit haben, in über 60 Veranstaltungen in Konzert, Oper, Lesung und Happening den aktuellen Stand europäischen Kulturschaffens zu erfühlen und zu erfahren. Die Auslastungsziffern liegen weit über dem, was andere renommierte Großspektakel vorzuweisen haben, und die Eintrittspreise, deren Höchstmarken bei 120 Mark enden, sind mehr als moderat.

ommerzeit heißt Festspielzeit, und wenn die Temperaturen wie in diesem Jahr schon Anfang Juni auf Höchststände klettern, zieht es viele Musikinteressierte in jene Orte und Gegenden, die sich der Festivalkultur in unserem Lande verschrieben haben. Seit nunmehr 15 Jahren steht ganz oben auf der Reisehitliste der Kissinger Sommer, ein Musikreigen der ganz besonderen Art. 1986 gegründet mit Zonenrandsubventionen, ist es ihm in den wenigen Jahren seines Bestehens gelungen, einen angestammten und unverwechselbaren Platz in der europäischen Musikszene einzunehmen. Wenn in diesen Tagen erneut laut über Sinn und Unsinn zentraler oder föderaler Kultursubvention nachgedacht wird, wenn namhafte Nachrichtenmagazine den Vorwurf eines Spektakel-Zwangs bei den Sommerfestivals erheben, so scheint es angebracht, Bedingungen und Bedingtheiten an Ort und Stelle, an Inhalten und Aussagen der Veranstaltungen zu überprüfen. Für den Kissinger Sommer 2000 sprechen zunächst die nüchternen Fakten: In vier Wochen, vom 15. Juni bis zum 16. Juli 2000, wird das Publikum Gelegenheit haben, in über 60 Veranstaltungen in Konzert, Oper, Lesung und Happening den aktuellen Stand europäischen Kulturschaffens zu erfühlen und zu erfahren. Die Auslastungsziffern liegen weit über dem, was andere renommierte Großspektakel vorzuweisen haben, und die Eintrittspreise, deren Höchstmarken bei 120 Mark enden, sind mehr als moderat. Dies alles klingt recht vielversprechend, reicht aber für sich genommen noch nicht aus, um das erfolgsbegründende Eigentliche des Kissinger Sommers letztendlich zu beschreiben. Nach 15 Jahren kann festgestellt werden, auch in Kissingen gilt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Mischung machts und diese muss jeweils aufs Neue richtig zusammengesetzt, fein abgestimmt und gewürzt sein. Natürlich erwarten die Besucher große Namen und attraktive Programme; so waren am Eröffungswochenende beispielsweise die Wiener Symphoniker unter Wolfgang Sawallisch, das Berliner Sinfonie-Orchester unter Hans-Peter Frank mit den Solisten Frank Peter Zimmermann und Dmitri Sitkovetsky zu hören, faszinierte ein Michael Heltau in Höchsform mit Wiener Kaffeehaus-Schmäh unter dem traurig-süßen Motto „Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug“ – klug und kapellmeisterlich begabt war vor allem auch der fabelhaft präsente Klavierbegleiter, Otmar Binder –; dies alles gehört zur professionellen Selbstverständlichkeit der klug disponierenden Intendantin, Kari Kahl-Wolfsjäger.

Das Eigentliche aber des Kissinger Sommers ist das musikalische Abenteuer, die Entdeckungsreise und das Überraschtwerden durch junge Interpreten, junge Interpretationen und die Möglichkeit, Neue Musik wahr- und aufzunehmen. Es sind die Zeitgenossen, denen sich dieser Musiksommer ganz nachhaltig verschrieben hat, die ausübenden und neuschaffenden Kreativen. In der Reihe Junge Elite werden Preisträger aus ganz Europa vorgestellt, erhalten sie die Möglichkeit, auch ein zweites oder drittes Mal ihr Publikum für sich einzunehmen. Am Eröffnungswochenende waren dies der junge deutsche Pianist Marcus Groh, die russische Pianistin Anna Grouri, das Henschel Quartett und das (Klavier-)Trio Jean Paul.

Marcus Groh, Erster Preisträger des renommierten Brüsseler Königin-Elisabeth-Wettbewerbs, spielte Schubert (Sonaten H-Dur D 575, a-Moll D 784), Chopin (Barcarole Fis-Dur und Scherzo b-Moll) sowie die 7. Sonate von Sergej Prokofieff. Vor allem seiner Interpretation der 1942 entstandenen Sonate von Prokofieff, die durch präzise Rhythmik, aber auch spielerisch freie Agogik überzeugte, merkte man Grohs Nähe zum Jazz an, und so überraschte er sein Publikum mit einer (verjazzten) eigenen Bearbeitung des Schubertschen Moment Musical f-Moll als krönendem Abschluss. Die Entdeckung der ersten Tage war das überwältigende Spiel der 28-jährigen Anna Grouri. Schülerin von Ludwig Hoffmann und Gitti Pirner, erinnerten ihre Chopin-Interpretationen an die junge Martha Argerich.

Wir hörten alle vier Scherzi in h-Moll, b-Moll, cis-Moll und E-Dur. Neben einer Technik, die es der Grouri ermöglicht, von Anfang an aufs Ganze zu gehen, knüpft sie in ihrer Interpretation an die große russische Schule eines Svatoslav Richter oder Emil Gilels an, und so nimmt es nicht Wunder, dass ihre Deutung der 1962 entstandenen Chaconne der Tartarin Sofia Gubaildulina auch inhaltlich bruchlos an die zuvor zu Gehör gebrachten Préludes eines Alexander Skrjabin anschloss.

Die neue, zeitgenössische Musik wird am letzten Juniwochenende zu ihrem Recht kommen. Im Rahmen des 12. Kissinger Komponistentreffens und der im letzten Jahr erstmalig und sehr erfolgreich durchgeführten „Langen Komponistennacht“ interpretieren die Komponisten Rodion Shchedrin, Wilhelm Killmayer, Moritz Eggert, Jörg Widmann Eigenes und Fremdes und vermitteln damit einmal mehr spannende Einblicke in Schaffens- und Interpretationsprozesse.

Christian Kröber

 

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