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Zur Konsensdemokratie fähig: Die Orchestermitglieder entscheiden sich einstimmig für das neue Leitbild. Foto: J. Radsack
Zur Konsensdemokratie fähig: Die Orchestermitglieder entscheiden sich einstimmig für das neue Leitbild. Foto: J. Radsack
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Das Orchester ist auch in Zukunft sein eigener Chef

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Zukunftskongress der Jungen Deutschen Philharmonie in Frankfurt · Von Andreas Kolb
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Das Orchester ist der Chef, das Kollektiv hat das Sagen. Diese Utopie war ein Stück weit in der Jungen Deutschen Philharmonie verwirklicht, die 1974 von engagierten und innovationsfreudigen Musikstudenten ins Leben gerufen wurde. Nach 33 Jahren steht das Orchester ökonomisch gesehen besser da als je zuvor. Seit dem Jahr 2000 sichern die Stadt Frankfurt und das Land Hessen sowie der Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien die Basisfinanzierung. Die Krise, die Annika Glose, seit 1. Juli 2006 Geschäftsführerin des Orchesterunternehmens, dennoch ausgemacht hat, ist eine inhaltliche. „Mehr als 30 Jahre nach der Gründung der Jungen Deutschen Philharmonie prägt dieser ursprüngliche Geist unser Orchester nicht mehr“, konstatierte sie. Und suchte nach Lösungen, um das Orchester fit zu machen für die Zukunft. In Absprache mit dem Orchester engagierte sie die Unternehmensberater Harten und Breuninger und lud Orchester, Leitungsteam und Experten des Deutschen Musiklebens zu einem zweitägigen Zukunftskongress nach Frankfurt ein.

Die Orchesterlandschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Das Referat von Klaus Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchester Vereinigung, DOV, brachte es auf den Punkt: Seit der Wende habe sich die Zahl der Kulturorchester in Deutschland von 168 auf 132 verringert. Es seien insgesamt 2.107 Planstellen für Orchestermusiker weggefallen. Gleichzeitig hat die Junge Deutsche Philharmonie ihre Alleinstellung verloren. Das Gustav Mahler Jugendorchester oder das EU-Orchester haben die Junge Deutsche Philharmonie an Beliebtheit unter den jungen Nachwuchsmusikern überrundet. Das Modell Junge Deutsche Philharmonie wird zwar in der Öffentlichkeit nach wie vor positiv gesehen, aber bei den Mitgliedern selbst nicht – das ergab eine Befragung zum Selbstbild. Es herrscht Mitgliedermangel, das Netzwerk bröckelt, die Konkurrenz wird größer.

Reformen und Innovationen müssen bei der Junge Deutschen Philharmonie von der Basis und dem Leitungsteam gemeinsam gewollt werden. Das ist ihr Prinzip. Aber: Braucht Basisdemokratie eine professionelle Moderation durch eine Beratungsfirma? Die Berater Klaus Harten und Eberhard Breuninger vermieden mit ihrer Arbeitsweise, dass sich im basisdemokratischen Plenum die wortgewandten und „machthungrigen“ Persönlichkeiten von Anfang an ins Zentrum spielten, und schafften in durch Leitfragen gesteuerten Arbeitsgruppen erst mal einen intensiven Austausch zwischen jungen Musikern und Experten. Gerade dieser wurde am Ende der Veranstaltung von beiden Gruppierungen als wichtiger Erfahrungszuwachs gewertet.

Zu den Experten zählte auch Karsten Witt, Gründungsmitglied der Jungen Deutschen Philharmonie und deren Geschäftsführer von 1979 bis 1987. Sein Kurzreferat unter dem Titel „Modelle innovativer Orchesterprojekte“ begann er mit der Feststellung:
„ So wahnsinnig viele interessante Modelle innovativer Orchesterarbeit fallen mir nicht ein. Das, was wir vor 30 Jahren gemacht haben, ist interessanter und radikaler als das meiste“
Arthur van Dijk, Geschäftsführer des Niederländischen Jugendorchesters National Jeugd Orkest, stieß ins gleiche Horn: „Die Jugendorchester sind der konservative Teil des Musiklebens in Europa. Alle Jugendorchester machen das gleiche.“

Dass sich die Junge Deutsche Philharmonie nicht als Jugendorchester versteht, sondern als Studentenorchester, darüber herrschte schnell Konsens. Doch die Grundfragen: Wer sind wir? Wofür stehen wir? Wo wollen wir hin? boten noch ausreichend Diskussionsstoff. Harten und Breuninger waren nicht nur gewiefte Moderatoren, sie bezogen auch Stellung und hielten dem Orchester nach den ersten „Denkeinheiten“ den Spiegel vor. „Das Orchester muss wollen!“ war ihre These. Karsten Witt habe vor 20 Jahren das Orchester in einem Zustand der Überforderung zurückgelassen. Seither sei keiner mehr da, der sage, was er wolle, und vor allem keiner, der sagt, wo es lang geht. Basisdemokratie als attraktives Alleinstellungsmerkmal zu beschreiben, sich dann aber nicht persönlich zu engagieren, das bedeute die Auflösung des Orchesters. Eine starke Polemik, auf die auch rasch Reaktionen aus dem Orchester erfolgten.

Roland Diry, Geschäftsführer der Deutschen Ensemble Akademie und des Ensemble Modern, das vor etwas über zwei Jahrzehnten aus der Jungen Deutschen Philharmonie hervorgegangen war, stand nicht nur als Experte und wichtiger Kontaktmann in die Realität des Musikbetriebs zur Verfügung, sondern auch als „Sprachrohr“ für den ebenfalls eingeladenen, aber verhinderten Komponisten Hans Zender. Im Zentrum von Zenders Vision stand der Wunsch, dass die Junge Deutsche Philharmonie eine „Schar von Komponisten um sich versammeln möge“. Auch wenn er sich weiter wünschte, dass Defizite in der ästhetischen Diskussion endlich nachgeholt würden, so sah er die Zukunft der Jungen Deutschen Philharmonie nicht in einer Spezialisierung auf die Moderne. Mit alter und neuer Musik müsse das Orchester aus dem jeweiligen Werk heraus die Ideen der Komponisten in die heutige Zeit befördern. Eine Aufforderung zu Vermittlungsprojekten von unerwarteter Seite konnte man dort herauslesen.

Standen am Tag eins der Austausch und die Diskussion bis hin zum Streit zwischen den Generationen im Vordergrund, so brachte Tag zwei eine zielgerichtete Formulierung einer Vision, die vom Orchester einstimmig angenommen wurde:

„Wir werden das Zukunftsorchester sein“, lautet ein Kernsatz. Mit zukunftsweisenden Programmen will das Orchester höchstes musikalisches Niveau und eine gute Portion Mut zeigen. Und: Die Junge Deutsche Philharmonie wird sich stärker nach außen öffnen und vernetzen. Durch einen intensiven Kontakt zu den Hochschulen soll das Ausbildungsangebot weiter perfektioniert werden.

Kooperationen mit Profiorchestern sollen für fruchtbaren Austausch und eine realistische Einschätzung des Berufs sorgen. Es geht darum, den Musiker bestmöglich auf die zukünftige Berufspraxis vorzubereiten und ihm dabei ebenso die Chance zu bieten, sich seiner Ideale zu vergewissern. Hierbei wird auch die pädagogische Arbeit der Musiker im Bereich der Musikvermittlung eine entscheidende Rolle spielen. Als wichtigstes vorprofessionelles Orchester Deutschlands will die Junge Deutsche Philharmonie sich außerdem stärker als Repräsentant der Bundesrepublik im In- und Ausland engagieren.

Das Orchester hat sich auf dem Frankfurter Zukunftskongress ein klares Leitbild gegeben – junge Visionäre stellen sich damit der Realität des Konzertbetriebs. Und ihre Chancen stehen nicht schlecht.

Film über den Zukunftskongress unter www.nmzmedia.de

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