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Das Seoul Philharmonic Orchestra erfindet sich neu

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Ein Bericht aus Anlass der asiatischen Erstaufführung von Boulez’ Orchesterzyklus „Notations“ am 30. Oktober 2008
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Nach einer viele Jahre andauernden Phase organisatorischer Instabilität und künstlerischer Orientierungslosigkeit herrscht seit der Berufung Myung-Whun Chungs zum Artistic Director vor drei Jahren Aufwind beim Seoul Philharmonic Orchestra, dem wichtigsten und ältesten Klangkörper der Republik Korea.

Die Ziele sind hoch gesteckt, der Ehrgeiz groß und die Bilanz der ersten Saisons mehr als ermutigend. Das SPO ist auf dem Weg, eines der führenden Orchester im ostasiatischen Raum zu werden und setzt dabei auch auf die Neue Musik.

Wohl einmalig in Asien dürfte die Einrichtung einer eigenen, der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts gewidmeten Konzertreihe sein, mit deren Leitung Chung die koreanische, seit über 20 Jahren in Deutschland ansässige, international renommierte Komponistin Unsuk Chin betraute. „Ars Nova“ heißt ihre Konzertreihe, die pro Saison – die in Korea mit dem Kalenderjahr zusammenfällt – zwei größere Arbeitsphasen vorsieht mit jeweils einem Orchester- und einem Kammerkonzert und vielfältigen Begleitprogrammen. Seit dem Start der Reihe am 27. April 2006 brachten die Musiker des SPO unter der Leitung von Dirigenten wie Stefan Asbury, Pascal Rophé, Roland Kluttig, Francois-Xavier Roth und Rüdiger Bohn etwa 60 Werke zur koreanischen, die Hälfte davon sogar zur asiatischen Erstaufführung. Durch diese beindruckenden Zahlen spricht weniger die Ambition, sich einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde zu erspielen, als ein enormer Nachholbedarf, denn es handelt sich dabei größtenteils um Werke von „Klassikern“ des 20. Jahrhunderts wie Ives, Webern, Strawinsky, Messiaen, Cage, Scelsi, B.A. Zimmermann, Xenakis, Ligeti, Boulez oder Kurtág. Die Programme sind klug konzipiert, folgen einem dramaturgischen Leitfaden und kontrapunktieren – zum Teil in stimulierender Dissonanz – die traditionsverpflichteten Konzerte des Chefdirigenten. Der Ritus des traditionellen Konzertablaufs wird dabei gerne in Frage gestellt, bisweilen auch schon einmal humorvoll provokant: Den Beet-hoven-Schwerpunkt in Chungs erster Saison 2006 etwa flankierte ein „The different Beethoven“ betiteltes Konzert mit Werken unter anderem von P.D.Q. Bach und Jukka Tiensuu („Le Tombeau de Beet-hoven“), in dessen zweiten Teil dann Mauricio Kagels Beethoven-Film „Ludwig van“ für Irritierung sorgte. Für das koreanische Publikum, das den ironischen Umgang mit den Ikonen der abendländischen Musikgeschichte nicht gewohnt ist, eine echte Herausforderung. Die Konzerte im Juni 2008 spürten dem Einfluss außereuropäischer Traditionen auf die Orchestermusik der europäischen Moderne nach und erwiesen den „American Mavericks“ Reverenz mit Erstaufführungen von Cage, Cowell, Ives, Antheil und Zorn. In den Konzerten zu Ehren von Messiaens 100. Geburtstag am 25. und 30. Oktober letzten Jahres kamen neben Messiaens „Sept haïkaï“, „Réveil des oiseaux“ und „Un sourire“ auch Werke seiner Studenten Boulez, Kurtág, Stockhausen und Xenakis zu Erstaufführungen. Xenakis’ Schlagzeug-Paradestück „Peaux“ für 6 Schlagzeuger (aus den „Pléïades“) initiierte einen faszinierenden Abend, an dessen Ende die fulminante asiatische Premiere der „Notations“ unter der Leitung von Boulez’ langjährigem Assistenten Pascal Rophé stand.

In den äußeren Umständen dieses Konzertes trat eines der Dilemmata, in denen das Orchester nach allen glücklichen Umstrukturierungen noch immer steckt, besonders deutlich zutage: Der Klangkörper, dessen Verwaltung und Proberäume im Sejong Arts Center im Herzen von Seoul beheimatet ist, hat keinen eigenen Konzertsaal. Der Saal des Sejong Arts Center, unter dessen Verwaltung das SPO vor seiner Selbständigkeit jahrelang unprofessionell navigiert wurde, ist überdimensioniert und akustisch unbefriedigend, er muss als Mehrzwecksaal für alle Arten von Spektakeln herhalten, ist ständig überbucht und das Orchester ohne terminliches Vorgriffsrecht.

Auch in den anderen, zum Teil akustisch vorteilhafteren Sälen in Seoul wie dem Seoul Arts Center muß sich das SPO in die Warteschlange reihen, Terminabsprachen mit Gastdirigenten und Solisten werden dadurch immer wieder erschwert. So fand das Konzert mit Boulez’ „Notations“ nicht in Seoul, sondern in der etwa 30 Autominuten entfernten Nachbarstadt Goyang statt, die zwar über einen wunderbaren Konzertsaal verfügt, als Trabantenstadt von Seoul aber nur einen Teil des interessierten Hauptstadtpublikums anlocken kann.

Myung-Whun Chung, dessen Berufung auf Einladung des damaligen Bürgermeisters von Seoul und jetzigen Staatspräsidenten Myung Bak Lee zurückging, ließ sich den Bau eines Konzertsaales für das SPO als Bedingung in den Vertrag schreiben. Ein Entwurf wurde bereits gekürt, und wenn alles gutgeht, kann das Orchester 2012 sein eigenes Haus auf einer Insel im imponierenden Hang-Fluss, der die 11-Millionenstadt Seoul in eleganten Windungen in „rive droite“ und „rive gauche“ teilt, eröffnen. Chungs wichtigstes Ziel wird bis dahin erreicht sein, die vollständige Erneuerung des Orchesters und seine Etablierung als eines der besten Orchester der asiatischen Welt.

Über die Philosophie dieser Erneuerung sind sich Musiker wie Administration einig: Das SPO soll das unverwechselbare Profil eines koreanischen Nationalorchesters erhalten, das durch die Synthese verschiedenster Traditionen und Einflüsse aus Ost und West entsteht – so wie es die Musikerpersönlichkeit Chung vorzeichnet, in dessen künstlerischer Prägung asiatische, deutsche, französische und amerikanische Traditionen zusammenfließen. Und wie es viele Musikerbiographien im Orchester bereits reflektieren. Denis Kim etwa, einer der Konzertmeister des SPO, wurde in Korea geboren, wuchs in Kanada auf und spielte bereits als Konzertmeister im Hong Kong Philharmonic Orchestra. Oder Edward Choi, erster Schlagzeuger des SPO, Kind koreanischer und kanadischer Eltern, der ebenfalls auf Engagements in Hongkong und Malaysia zurückblicken kann. Für sie, wie für den bulgarischen Konzertmeister Svetlin Roussev – gleichzeitig Konzermeister an Chungs Orchestre Philharmonique de Radio France und einer der jüngsten Professoren am Conservatoire in Paris – ist das SPO ein „Orchester des 21. Jahrhunderts“, jung, dynamisch, offen für hochbegabte Musikerpersönlichkeiten aus aller Welt, die das berufliche Risiko nicht scheuen. Denn Sicherheiten gibt es kaum, wenige Musiker haben über ein Jahr hinausgehende Verträge, fünf Prozent davon werden im Durchschnitt nicht verlängert. Der Anteil nicht-koreanischer Musiker ist seit dem Amtsantritt Chungs leicht gestiegen – von 11 im Jahr 2006 auf 18 im Jahr 2008 bei 100 Planstellen – und bei diesem Anteil soll es auch in etwa bleiben. Sehr viele junge Musiker spielen im SPO, ein überdurchschnittlich hoher Anteil davon Frauen.

Die Identifikation des Publikums mit „seinem“ Orchester wird mit einer Vielzahl von Initiativen vorangetrieben. Neben den selbstverständlich gewordenen „Educational projects“ sind dies vor allem „Outreach programs“ mit denen das Orchester in die umliegende Provinz geht, Open-Air-Konzerte, Konzerte in Schulen, Einführungsvorträge; nach dem Vorbild der Berliner Orchesterakademie gibt es eine Holzbläserakademie, eine enge Kooperation besteht mit der Brass Band der Heilsarmee, in der Kinder der Seouler Waisenhäuser auf hohem Niveau ausgebildet werden.

Die Förderung der zeitgenössischen koreanischen Musik ist ein weiteres Anliegen des Orchesters, bei dem Unsuk Chins „Ars Nova“-Serie eine wichtige Rolle spielt. Chin vergibt mehrere Aufträge pro Saison an junge koreanische Komponisten – Orchester- wie Ensemblestücke –, darüber hinaus steht das SPO Kompositionsstudenten auch in „Reading sessions“ zur Verfügung – Chin selbst betreut im Rahmen von „Ars Nova“ eine eigene Meisterklasse. Von diesen Möglichkeiten hätte sie in den 1980er-Jahren in der Klasse György Ligetis in Hamburg nur träumen können. Der Blick über den eigenen Tellerrand – sicher ein Nachklang des Studiums bei Ligeti – liegt ihr besonders am Herzen, die Kooperation mit bildenden Künstlern gehört inzwischen fest zum Programm der „Ars Nova“-Serie. Den französischen Computer-Künstler Hugo Verlinde etwa, dessen magische Projektionen im Zusammenhang mit den Messiaen-Konzerten im Herbst letzten Jahres in Seoul und Goyang präsentiert wurden, lernte Chin bei ihrer Arbeit am IRCAM in Paris kennen.

Die erstmalige Präsentation des IRCAM in Korea gehört denn auch zu den Höhepunkten der Saison 2009. Susanna Mälkki, Künstlerische Leiterin des Ensemble Intercontemporain, wird im Oktober in zwei Konzerten mit dem SPO die elektronische Wunderwelt des von Pierre Boulez 1974 gegründeten Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique bei Erstaufführungen von Werken von unter anderem Boulez, Höller, Dalbavie und Tiensuu in Seoul vorstellen.

Seit dem Amtsantritt Myung-Whun Chungs war das SPO auch in den USA, in Thailand und Japan zu hören, dieses Jahr sind Auftritte beim Flandern Festival in Brüssel und in Los Angeles ge-plant. Für 2010 steht eine Europa-Tournee auf der Agenda, bei der das Orchester – erstmal seit seiner Reorganisation – auch in Deutschland auftreten wird, unter anderem im Rahmen von „Essen Kulturhauptstadt 2010“ in der Essener Philharmonie. Auf das, was es mitbringen wird, kann man gespannt sein.

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