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Der einzige große Künstler der Neuen Musik

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Eine These zu Wolfgang Rihm · Von Arno Lücker
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Am 13. März 2012 wird der Komponist Wolfgang Rihm 60 Jahre alt. Kann man zu diesem Zeitpunkt bereits auf ihn – auf sein musikalisches Schaffen, auf die klanglichen „Ergebnisse“, die bei Rihm nie endgültige Ergebnisse sein sollen, auf das, was er als sich äußernder Mensch niedergeschrieben hat – zurückblicken? Oder wird die Möglichkeit des Rückblicks durch irgendetwas verbaut oder sogar gänzlich verhindert?

Bereits jetzt dürften sich sowohl diejenigen, die sein Schaffen schätzen, als auch die, die diesem kritisch gegenüber stehen, einig sein: Rihm ist ein besonderer Künstler innerhalb des Bereichs, den wir noch mit „Neue Musik“ überschreiben. Man könnte präzisieren: Erstens gibt es niemanden, der Kritik an Rihm öffentlich wagt, dazu ist Rihm zu mächtig und Musikkritik zu ausgestorben. 

Zweitens ist Rihm nicht nur ein besonderer Künstler; er ist sogar der einzige große Künstler innerhalb der Neuen Musik. Noch präziser: Er ist hier der einzige wirklich große Künstler-Typ.

Rihm hat sich von Anfang an in der Neuen Musik – auf dem Weg zu einem großen Künstler – einzigartige Freiräume erschaffen. Größtmögliche Freiräume, die ein großer Künstler unbedingt braucht. Klaus Huber berichtet von seinem ehemaligen Schüler, dass dieser zu den Freiburger Kompositionsseminaren mit Nadelstreifenanzug und Zigarre erschien. Huber erzählt dies mit einem Lächeln im Gesicht. Er hat diesen Dandyismus offenbar erst nicht verboten, dann geduldet. Dann war es irgendwann zu spät. Rihm durfte sich alles erlauben. Ein höchst erstrebenswerter Zustand. Zumal für einen Künstler. Im Grunde die totale, totalitäre Freiheit.

Es gibt den Typus Künstler, wie ihn Rihm innerhalb der Neuen Musik als Einziger verkörpert, in anderen Sparten des Kunstbetriebs häufiger. Gerhard Richter. Noch die größten Schwächen kauft man ihm ab – und spricht über ihn wie eine Erscheinung, die zu beschreiben das eigene Reflexionsvermögen ohnehin immer übersteigen müsse. Irgendwann kann dann ein solcher Künstler, der sich selbst Atheist nennt, die Fenster des Kölner Doms gestalten. Weil er es macht. Und weil er es macht, ist es groß. Weil er ein großer Künstler ist. Weil er sich den einzigartigen, einzigartig pathologischen Status eines Künstlers erarbeitet hat. Auch Jonathan Meese umweht dieser Wind der großen Künstler-Freiheit. Er darf ungestraft den Hitler-Gruß zeigen. Die Fotografen um ihn herum lachen – und tun das, was sie können: sie fotografieren. Fotografen sind keine Kritiker. Jonathan Meese ist ein Gesamtkunstwerk. Einzig Rihm ist es gelungen, einen ähnlichen Status wie Richter und Meese zu erreichen. 

Irgendwann schrieb Rihm keine Programmtexte über seine Werke mehr. Wenn, dann schrieb Rihm über seine Liebe zu dem Theater-Theoretiker Antonin Artaud – oder entgegnete dem Wunsch nach einem Programmtext entsprechend barsch. Eine nachvollziehbare Haltung. Einige Komponisten verweigern sich dem Wunsch des Veranstalters, dass der Schöpfer selbst über sein Werk sich äußern möge. Diese Verweigerungshaltung wird die unterschiedlichsten Blüten getrieben haben. Bis hin zu Werken, die die Programmtextverweigerungshaltung selbst thematisieren.

Einzig Rihm hat mit seiner Interpretation diese Haltung in der Art eines großen Künstlers ästhetisiert. In der Pause einer Rundfunk-Übertragung durfte er eine – vorher im Studio produzierte – Schimpf-Tirade auf die Musikvermittlung in Programmheften verlesen.

Wenn Rihms Musik mal auf Unverständnis stößt, so spricht er davon, dass er an das Scheitern von Vermittlung glaube, dass große Kunst, große Musik – und Rihm hält seine Musik vermutlich für eine solche – eben nicht immer verstanden werde, sondern dass das Unverständnis ein Teil des ästhetischen Prozesses selbst sei. Dabei ist Rihms Musik freilich keine in diesem Sinne durchreflektierte Kunst, Rihm schmückt sich lediglich mit der Attitüde des Scheiterns. Dabei ist ihm Scheitern fremd. Rihms Musik, Rihms Laufbahn – beides lässt sich ohne Weiteres gleichsetzen – ist die am meisten gelungene innerhalb der Neuen-Musik-Welt überhaupt.

Rihm hat es nicht gut getan, dass ihm der Status des oben andeutungshaft umrissenen Künstler-Typus eingeräumt wurde. Denn Rihm fehlt eine für das Schaffen von Musik wesentliche Fähigkeit: die Fähigkeit, einzuschätzen, wie lange eine Idee trägt. Das Gefühl für Zeit und Form ist bei Rihm praktisch nicht vorhanden. Helmut Lachenmann hat mal über ein 30-sekündiges Werk von Rihm gesagt, auch dieses sei wieder zu lang geraten. Und selbst die schmerzvolle Abwesenheit jeglichen Zeitgefühls in der Musik Rihms, der stets vom selben archaischen Felsblock seine Stücke herunterzuschnitzen scheint, wurde von der ihn umarmenden Öffentlichkeit gewalttätig zu einem Stilmerkmal sublimiert. Noch die größte Schwäche eines durchaus anfangs begabten Künstlers wird zu etwas, was man heimlich mit Augenrollen goutiert, doch vordergründig freudvoll affirmiert. Rihms Werke sind immer zu lang. Eine zweite mögliche These, die jedoch unmöglich im ernsthaften Diskurs wird auszuformen sein. Dazu ist Wolfgang Rihm einfach ein zu großer Künstler. Ein Künstler mit allen Freiheiten. Der einzige „große Künstler“ der Neuen Musik, den wir haben. Der Einzige, bei dem selbst schärfsten Kritikern erst spät einfällt, die Anführungszeichen an der richtigen Stelle zu setzen. Herzlichen Glückwunsch, Wolfgang Rihm.  

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