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Preisgekrönt: 2015 erhielt das vision string quartet den Würth-Preis der Jeunesses Musicales. Am 12. Oktober 2021 wird das Streichquartett mit dem „Ritter-Preis 2021“ ausgezeichnet. Foto: vision string quartet
Preisgekrönt: 2015 erhielt das vision string quartet den Würth-Preis der Jeunesses Musicales. Am 12. Oktober 2021 wird das Streichquartett mit dem „Ritter-Preis 2021“ ausgezeichnet. Foto: vision string quartet
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Die Beat-Boys und ihre Vision

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Ein Porträt des vision string quartets kurz vor seinem zehnten Jubiläum
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Bei den ersten Begegnungen zwischen Jakob Encke und Daniel Stoll lernten beide gerade das Alphabet. Nach und nach setzten sie Buchstabenketten zu Wörtern zusammen. Noten lesen konnten sie schon. Beide waren sieben Jahre alt. Sie teilten nicht nur die Schule und den Landkreis, sondern auch die Geigenlehrerin.

Auch die anderen zwei Ensemblemitglieder waren da schon präsent: Leonard Disselhorst, der seit dem 13. Lebensjahr als Jungstudent an der Hochschule in Hannover Cello studierte und Sander Stuart, damals noch mit Geige statt Bratsche, als erbitterter Konkurrent in der Altersgruppe Ib von „Jugend musiziert“. Dann war die Schulzeit in Hannover vorbei und es verstreute die vier in alle Himmelsrichtungen über ganz Deutschland zum Musikstudium. Gemeinsam gespielt hatten sie bis dahin noch nicht. Aber jetzt wollten sie zusammen ein Ensemble gründen – und darin als Ausgleich zum handwerklichen, klassischen Studium all die Sachen ausprobieren, die ihnen durch den Kopf geisterten: eigene Stücke, klassikfremde Genres oder neue Spieltechniken. Nach der ersten Probe packte Sander Stuart seine Bratsche in den Kasten und ging nach Berlin, ein Streichquartett sei ihm gerade zu stressig. „Also haben wir drei Jahre mit einem wunderbaren Bratschisten gespielt, bevor Sander wieder angekrochen kam und meinte, das sei eine dumme Entscheidung gewesen“, frotzelt Daniel Stoll im Zoom-Gespräch. Sander Stuart neben ihm ­grinst ein wenig zerknirscht. Man merkt, dass alle sehr gut miteinander befreundet sind. Sie machen nicht nur ständig Witze und kennen endlos viele Insider, sondern auch die Großmütter der anderen.

Nach einem Jahr nur mit Proben, Ausprobieren und Tüftelei wagten sich die vier schließlich doch an die klassische Musik – auch wenn das Ensemble eigentlich der Gegenpol sein sollte: „Wir dachten uns: Wenn wir schon ein Quartett sind, dann können wir auch mal das klassische Repertoire ausprobieren. Ab da sind wir dann zweigleisig gefahren: Wir haben klassische Konzerte gespielt, aber eben auch viel abseits der Klassik.“ Mit im Gepäck waren neben Mendelssohn, Schubert und Bartók auch Arrangements von Stücken des Turtle Island String Quartets sowie eigene Stücke vom ersten Geiger Jakob Encke. Dem Quartett war es wichtig, nicht nur das Repertoire, sondern auch die klanglichen Ausdrucksmittel zu erweitern, sagt Sander Stuart: „Popmusik ist meis­tens stark komprimiert – so wollten wir auch klingen. Also haben wir uns das viele Vibratospiel und die Dynamik abgewöhnt.“ Stattdessen wird fleißig gechoppt, also der Bogen auf die Saite geschlagen, damit es wie eine Snare-Drum klingt. „Wir machen das meistens so, dass wir das auf die Stimmen verteilen. So entsteht dann ein durchgängiger Beat.“ In der poppigen, oftmals zweiten Konzerthälfte ahmen die vier Musiker Klänge von Schlagzeug oder E-Bass nach, Leon Disselhorst hat für sein Cello sogar ein Effektgerät. Sie spielen Pop, Rock, Funk, Folk oder Minimal Music. Jetzt sind sie kein Streichquartett, sondern eine Band. 

Das vision string quartet verbindet Beet­hoven mit Beats. Damit spricht es mit einer Leichtigkeit genau das Publikum an, um das Konzerthäuser und Klassikfestivals sonst mühsam mit hippen Projekten werben. „Ich glaube nicht, dass irgendwann Beethoven im Berghain gespielt wird, aber man kann schon zeigen, warum diese Werke genial sind und dass auch die Popkultur von der Klassik kommt“. Stuart spricht so, als sei das alles nicht der Rede wert. Es sei doch ganz normal, dass man die Klassik- und die Popfans für das jeweils andere Genre begeistern könne. Er selbst hört privat gar keine Klassik, den anderen Mitgliedern geht es ähnlich. 

„vision string quartet“ – der Name zeugt für die Idee einer Aufhebung der Trennung von der sogenannten E- und U-Musik. Geboren wurde er bei der ers­ten Teilnahme am Internationalen Kammermusik-Campus der Jeunesses Musicales 2012, einem Stepping Stone der Szene. Stoll kannte den Meisterkurs von den Erzählungen seines Vaters, der als Studierender selbst dort gewesen war. Kurz nach der Gründung fuhr das Ensemble zur JMD (bei der Anmeldung nannte es sich noch Crossfire String Quartet) und spielte schließlich dort seine ersten Konzerte. Für vier Jahre kehrte es immer wieder nach Schloss Weikersheim zurück und erhielt wichtigen Input vom Vogler Quartett, dem Cuarteto Casals oder dem Artemis Quartett. „Das war diese vier Jahre lang quasi unser einziger Ensemble-Unterricht“, erzählt Stoll. 

Mittlerweile ist das Quartett längst kein Newcomer mehr, sondern fest etabliert. Das Markenzeichen: auswendig und im Stehen spielen. Die erste CD „Memento“ erschien vergangenes Jahr mit Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ und Mendelssohns sechstem Streichquartett. 

Im August folgte die zweite: Auf „Spectrum“ präsentieren die vier Musiker insgesamt 13 Eigenkompositionen – eine sattleuchtende Mischung, inspiriert von ihren eigenen Geschmäckern und Geschichten. Es klingt nach Samba, Singer-Songwriter, Metal oder Blue­grass. Insgesamt drei Jahre hat es gedauert von den ersten Kompositionen bis hin zum CD-Release. „Es fühlt sich sehr gut an, dass dieses Baby jetzt Geburtstag feiert.“ Sander Stuart steht die Freude darüber ins Gesicht geschrieben. 

Die wohl größte Freude des vision string quartets ist aber vermutlich eine andere. Es mag etwas pathetisch klingen, aber am Ende des Tages gibt es wohl nichts Schöneres als viel Zeit mit seinen liebsten Menschen zu verbringen und wenn dabei noch so vielseitige und spannende Projekte entstehen, herrlich! 

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