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Die Entwicklung musikalischer Kompetenz ist das Ziel

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Zur Revision des gymnasialen Musiklehrplans in Baden-Württemberg · Von Walter Scheuer
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Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen macht deutlich, dass sich die Lehrplankommission vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen gegenübergestellt sieht: dem institutionellen Auftrag, den Wünschen der Klientel (Kollegen-, Eltern- und Schülerschaft), den eigenen Zielen und schließlich auch den Begrenzungen des eigenen Gestaltungsspielraums.

Wie jedes Jahrzehnt soll auch in den kommenden Jahren der Musiklehrplan Baden-Württembergs neu gestaltet werden. Auch für Vertreter des Schulfaches Musik gilt es mehr als bisher, die Lehrplanerarbeitung nicht nur aus kritischer Distanz zu beurteilen, sondern sich mit konstruktiven Ideen in das Prozedere einzumischen, denn ein Fach lebt wesentlich aus den Diskussionen und Aktivitäten seiner Basis. Brauchen wir eine Revision des Lehrplans? Welche Defizite wurden festgestellt? Welche Erwartungen existieren? Was muss neu überdacht werden? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen macht deutlich, dass sich die Lehrplankommission vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen gegenübergestellt sieht: dem institutionellen Auftrag, den Wünschen der Klientel (Kollegen-, Eltern- und Schülerschaft), den eigenen Zielen und schließlich auch den Begrenzungen des eigenen Gestaltungsspielraums. Aber nicht nur diesen Ansprüchen ist zu genügen. Ganz wesentlich ist zu bedenken, dass ein Lehrplan ein grundlegendes und effizientes Instrumentarium zur Unterrichtsstrategie sein sollte, auch wenn Komplexität und Dynamik planbare Unterrichts- und Lernprozesse im Einzelnen kaum ermöglichen. So scheint die Erarbeitung eines Lehrplans der Quadratur des Kreises zu gleichen. Im Folgenden soll versucht werden, aus der Sicht eines ehemaligen Mitgliedes der Lehrplankommission einige grundlegende Überlegungen zur Lehrplanarbeit anzustellen.

Stereotype Erwartungen und ihre Folgen

Die Phase einer Lehrplanrevision beginnt in der Regel mit der Formulierung von populären „Zielsetzungen“. Traditionell üblich ist es, Lehrplanrevisionen mit Stoffreduktion oder gar „Stoffverzicht“ („Verzicht“?) zu begründen, mit Forderungen, den Lehrplan zu „entrümpeln“, ihn „schlanker“ zu machen, ihn zu aktualisieren. Ebenso naheliegend sind Forderungen nach größeren pädagogischen Freiräumen, nach Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“, um der immer wieder beklagten „Kopflastigkeit“ (oder „Kopflosigkeit“) des Unterrichts zu begegnen.

Auch die gerade in letzter Zeit wieder verstärkt aufkommenden Forderungen nach sozialen Kompetenzen (wie beispielsweise „Gemeinschafts-“ oder „Teamdenken“) und ganzheitlichen Kompetenzen (fächerübergreifendes, anwendungsbezogenes Lernen) prägen seit langem die Diskussion um die Erneuerung der Schule. Im Grunde wird dieser Forderungskatalog bei jeder Lehrplanrevision in leicht veränderten Varianten wiederholt und es stellt sich die Frage, wie eine Worthülsen-Diskussion vermieden werden kann und welche konkreten Kriterien die Diskussion zur Weiterentwicklung der Schule vorwärts bringen könnten.

Grundverständnis des Lehrplans

Wie kann die Zurückhaltung der Schulmusikkolleginnen und -kollegen bei Lehrplandiskussionen gedeutet werden? Es ist offenkundig, dass Lehrpläne in Künstlerkreisen tendenziell einen negativen Beigeschmack haben. Häufig werden sie als Diktat staatlicher Behörden aufgefasst oder gelten gar als Hindernis für lebendiges Unterrichten. Es ist zu fragen, inwiefern diese Vorstellungen berechtigt sind oder ob sie nicht eher in einer falschen Einschätzung der Relevanz und Funktion des Lehrplans ihre Ursache haben.

Die Reichweite des Lehrplans ist in der Tat prinzipiell begrenzt, denn das Geschehen im Unterricht und vor allem die Lernprozesse der Schüler sind nur sehr bedingt zu verordnen und stark abhängig vom situativen Zusammenhang. Ferner ist die Frage nicht nur, was unmittelbar im Unterricht geschieht, hinzu kommt, welche Implikationen der Unterricht für das weitere Leben des Schülers hat.

Um einen sinnvollen Gebrauch des Lehrplans zu befördern, wäre es überlegenswert, ob es nicht effizienter sein könnte, jede Schule eigenverantwortlich entscheiden zu lassen, in welcher Weise sie den Landes-Lehrplan übernimmt oder ob sie an dessen Stelle ein eigenständiges Angebot entwickelt. In diesem Zusammenhang ergibt sich allerdings die Frage, welchen Grundprinzipien die jeweils in den Schulen erarbeiteten Lehrpläne genügen müssten, um das Niveau und den Anspruch des Unterrichts vergleichbar zu halten. Eine solche auf der professionellen Verantwortung jeder einzelnen Schule beruhende Ausgestaltung des Unterrichts würde dann allerdings ein völlig verändertes Rahmenkonzept erfordern.

Was bedeutet musikalisches Lernen heute? – Kriterien

Die reale Praxis des Musikunterrichts in der Schule, insbesondere im Gymnasium, ist gekennzeichnet durch ein äußerst heterogenes und divergentes Bild an musikalischen Aktivitäten, Anspruchniveaus und Lernzielvorstellungen. Die Lehrplanreformen der vergangenen Jahrzehnte zielten zwar auf Profilierung im Hinblick auf mehr ganzheitliches, eigengesteuertes und entwicklungsorientiertes Lernen, dennoch ist zu beobachten, dass der Musikunterricht in der Konkurrenz der Fächer sich nur zögerlich aus den Fesseln des enzyklopädischen, „abfragbaren Häppchen-Wissens“ zu lösen in der Lage ist. Musiklernen im realen Schulalltag ist nach wie vor eingebunden in die Frage der Messbarkeit von Leistungen und naheliegenderweise abhängig von so genannten „bewährten“ Methoden des Unterrichtens.

Was waren nun die „Innovationen“ des Musiklehrplans von 1994? Sie sollen hier nochmals in Erinnerung gerufen werden. Im Vergleich mit seinem Vorgänger enthält der neue Lehrplan eine Fülle neuer methodischer Hinweise, der Einsicht folgend, dass das methodische Vorgehen wesentlich über den Unterrichtserfolg entscheidet. Darüber hinaus zeichnet er sich aus durch eine klarere Systematisierung und Verknüpfung der Lerninhalte und das Einbinden der Inhalte in eine fächerübergreifende Orientierung.

Die eigentliche Revision (manche sprechen sogar von einer stillen Revolution) geschah 1994 allerdings weniger bei den Inhalten und Methoden als vielmehr in einer Verschiebung des Begriffs des musikalischen Lernens. Die Tendenz der Veränderung kann in drei bis vier Punkten zusammengefasst werden:

  • wichtiger als das Lernergebnis (Überprüfbarkeit) wird die Lernaktivität,
  • Lernen ist weniger Selbstzweck, sondern eher anwendungsorientiert,
  • zum vorrangigen Ziel wird die Entwicklung von musikalischen Fähigkeiten,
  • die Begriffe „erziehen“, „bilden“ oder gar „Stoff vermitteln“ treten in den Hintergrund.

Unter musikalischen Fähigkeiten wird hierbei die ganze Palette der Aktivitäten im Musikunterricht verstanden: Singen, Instrumentenspiel, Tanzen, Musik hören, darüber nachdenken, die Fachsprache der Musik, Musik verstehen, Musik kreativ gestalten, in Zusammenhängen verschiedener Art denken, Musik beurteilen. – Aber auch „Musik genießen“ ist eine Fähigkeit, die es auszubilden gilt, wie auch die Lust und Liebe zur Musik, ohne die der Musikunterricht Episode bleibt.

Welche Konsequenzen hat nun diese Verschiebung des Lernbegriffs, die im 94er Lehrplan erst ansatzweise angewandt werden konnte?

• Die „Entwicklung musikalischer Fähigkeiten“ erfordert entwicklungsorientiertes Unterrichten. Das Schulfach Musik versteht sich damit eher als ein Angebot, die Musikalität der Schülerinnen und Schüler weiter zu entfalten.

• Entwicklungsorientierter Musikunterricht heißt, das eigendynamische Lernen anzuregen. Ausgangspunkt und treibende Kraft des Lernens sind damit die Entwicklungsbedürfnisse und Intentionen der Schülerinnen und Schüler.

• Entwicklungsorientierter Musikunterricht erfordert darüber hinaus ein spielerisches und künstlerisches Lernklima, in dem sich die Schüler wohlfühlen. Hier kommt dem Lehrer zentrale Bedeutung zu. Wenn wir das spielerische Lernen anregen möchten, müssen wir das Engagement herausfordern und weniger auf Erfolg oder Misserfolg achten.

• Entwicklungsorientiertes Lernen benötigt aufbauende Impulse, zielgerichtete Lernsequenzen über die Schuljahre hinaus, wie es im 94er Lehrplan konsequenter als bisher versucht wird. Dieses Kriterium des aufbauenden Unterrichtens bleibt allerdings angesichts der mageren Stundentafel in der Mittelstufe ein heikler Punkt.

• Entwicklungsorientierter Unterricht bedeutet schließlich ein integrierendes Lernen. In mannigfacher Weise versucht der 94er Lehrplan, ein Lernen in Zusammenhängen (neudeutsch: vernetztes Lernen) anzuregen. Unterschiedliche Fähigkeiten sollen eine sich gegenseitig stützende Funktion erhalten. Singen und Tanzen, Instrumentenspiel und Hören, Musik Erleben und Denken sollen miteinander verknüpft werden. Das bloße Singen, das Nur-Spielen oder das Nur-Denken entspringt einer lebensfremden Ideologie. Durch hörendes Singen oder denkendes Spielen oder spielerisches Denken entschwindet auch die Frage einer Hierarchie zwischen den Fähigkeitsbereichen. Denken ist dem Handeln und Empfinden nicht übergeordnet, sondern die Fähigkeiten sind miteinander verquickt.

Konzeptuelles Musiklernen statt Training von Regelwerk

Das 20. Jahrhundert, zu Beginn als das Jahrhundert einer „Pädagogik vom Kinde aus“ benannt, geht nun zu Ende und es ist festzustellen, dass das eigenständige kreative „Schaffen“ im Musikunterricht eher eine Randerscheinung blieb. Die etablierten musikdidaktischen Modelle sind seit Jahrzehnten im Wesentlichen Konstruktionen aus Elementen der Musiziertradition, der Hörerziehung und der Werkbetrachtung.

Es ist eine noch näher zu untersuchende Frage, warum es bisher kaum gelungen ist, das Komponieren von Musik in der Schule als Lernbereich zu etablieren, analog dem Schreiben eines Aufsatzes oder dem Malen eines Bildes. Immer wieder wird beklagt, dass Jugendliche, die von sich aus ihren Musiklehrer mit einem selbstkomponierten Stück konfrontieren, oft auf Ratlosigkeit stoßen und bestenfalls Hinweise erhalten, statt solcher Versuche doch zunächst den regulären Stoff zu bearbeiten. Speziell im Fach Musik existiert eine – sicherlich nicht unbegründete – Skepsis vor Dilettantismus. Die Frage ist aber schließlich weniger die einer anzustrebenden ästhetischen Norm, sondern vielmehr die pädagogische Aufgabe, Heranwachsenden die Anregungen zu bieten, die sie brauchen, um ihre Lebenswirklichkeit eigenständig und konstruktiv zu gestalten.

Die hier zugrunde liegende Motivation der Schüler und Schülerinnen ergibt sich häufig aus dem Lernen eines Instrumentes. Viele wollen nicht nur das Vorgegebene spielen, sondern auch etwas Eigenes entstehen lassen. Es wird als spannend erlebt, etwas Eigenes zu gestalten und den Entstehungsprozess zu verfolgen. Analog zum Spracherwerb (auch in der sogenannten Jugendsprache) bietet der Erwerb von Komponierfähigkeiten die Chance, spielerisch musikalische Ausdrucksmittel zu erproben, mit musikalischen Verlaufsprozessen zu experimentieren und diese zu fixieren, um damit musikalisches Formdenken auszubilden und mit Zeiterlebnissen bewusster oder auch intensiver umgehen zu können.

Durch die erfolgsmotivierte Aufgabe, Musik neu zu schaffen und damit einen individuellen Ausdruck zu formen, fühlt sich das Individuum als zentraler Motor des Geschehens. Die Attribution ist also innengesteuert, suggeriert den Anspruch der Kompetenz („ich kann’s!“) und lässt der Anstrengungsbereitschaft den je nach Situation möglichen Freiraum. Oft wird das Gestaltenwollen von Musik mitmotiviert durch persönliche Aspekte wie Flow- und Glückserlebnisse oder aber Sorgen, Ärger oder Not. Aber auch die Vorstellung, durch Parodieren musikalische Kunstwerke besser verstehen zu können, ist für manche Jugendliche ein Antrieb.

Schließlich ist Motivation immer überlagert durch das unbewusste oder bewusste Bedürfnis der Nachahmung von Vorbildern (Frage der Identifikation oder Identität), seien es der/die eigene Lehrer/-in, historische Meister oder mehr oder weniger abstrakte Ideen bis hin zu Obsessionen. Auch durch das Interesse, durch das Komponieren essenzielle Lebensfragen künstlerisch zu verarbeiten und zu sublimieren, kann ein erhöhtes Maß an persönlicher Verwirklichung erreicht werden.

Wie bereits angedeutet, ist das Komponieren auch deshalb besonders dazu geeignet, musikalische Lernprozesse zu initiieren, weil sich hier verschiedene modale Prozesse gegenseitig stützen und anregen: auditive, visuelle und kynästhetische Prozeduren, entsprechend dem traditionellen Motto der Reformpädagogik: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand und mit allen Sinnen“. Komponieren heißt intensive und aktive Vernetzung aller Bereiche des musikalischen Gedächtnisses: Klang- und Harmoniebilder, melodische und rhythmische Motive, Klangerwartungen, Imaginationen, musikalische Erlebnisse, konzeptuelles Denken und so weiter.

Es gibt eine Reihe von traditionellen Aufgabenstellungen beim Komponieren, die im herkömmlichen Musikunterricht zur Anwendung kommen, vermutlich aber nur sehr beschränkt und punktuell. Dies sind Aufgaben wie die Vertonung von Lyrik, das Erarbeiten kleiner „Stückchen“ wie Kanons oder Liedbegleitungen, Klangspiele, Notationen von Improvisationen, Produktionen von Singspielen oder Musicals.

Es sind und waren in diesem Jahrhundert die Komponisten selbst, die die lernpsychologische Bedeutung des Komponierens immer wieder hervorgehoben haben. Beispielhaft sei Schönberg genannt, der sein Seminarangebot für Komposition an jeden richtete, „Reicher oder Armer, Künstler oder Dilettant, Vorgeschrittener oder Anfänger“ und sein Angebot als Förderung der „Neigung“ verstand, worin er den einzig „wahrhaften Lehrmeister“ der Kunst sah.

Ein weiteres vielbeachtetes Beispiel aus neuerer Zeit: ausgehend von der Prämisse „Jeder Mensch, der sich mit Musik beschäftigt, sollte eigentlich auch komponieren können“ sucht Hans Werner Henze die Basisarbeit mit Kindern und „Amateuren“. Im vorletzten Jahr arbeitete er mit Musiklehrern beim Schleswig-Holstein Musik Festival, um den Anstoß dafür zu geben, dass – wie er meinte – eines Tages im nördlichsten Bundesland Kompositionsunterricht sogar flächendeckend in den Schulen eingeführt werden kann.

Die derzeitige Situation des Musikunterrichts kann als Phase des Übergangs bezeichnet werden hin zu größeren Freiräumen für eigeninitiatives und konstruktives Lernen.

Während Musikunterricht konventionell als Ort der Vermittlung von musikalischem Regelwerk verstanden wird, als Unterweisung in eine allgemeingültige Ästhetik, rückt in den letzten Jahren nach und nach die Idee in den Vordergrund, Unterricht als Lernprozesse auslösenden Ort zu begreifen, das heißt die musikalische Wirklichkeit nicht als fertiges Produkt zu betrachten, sondern diese immer wieder neu zu erkunden und zu gestalten. Die zwingende Folge ist ein Unterricht, der, wie oben beschrieben, den Erwerbsprozess von Kompetenzen in den Mittelpunkt stellt. Aus den in diesem Abschnitt angestellten Überlegungungen ergibt sich die Anregung, das Komponieren als eigenständig zu entfaltenden Lernbereich im Musiklehrplan zu verankern.

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