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Die Welt darf nicht am Penny-Markt enden

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Am Brennpunkt im Essener Norden: Einmaliges Musik-Schul-Projekt gegen die geistige Verarmung
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Auf mindestens drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz & AkzepTanz“, das Mitte September in Essen an einer Grundschule begonnen hat, einem sozialen Brennpunkt in der Nordstadt. Kurz gesagt bedeutet „ReSonanz & AkzepTanz“: In drei Jahren wird in den acht Klassen der Ganztags-Schule keine Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert, getanzt und gesungen wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention voranzubringen. Psychischen und physischen Defiziten der Kinder soll zumindest entgegengewirkt werden. Partner des einzigartigen Unternehmens sind das Mozarteum Salzburg, die Philharmonie Essen und die Herbartschule unter der Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden Gerhard Baum.

Am Morgen dieses Tages wirkt alles so normal in Essen-Katernberg, als befände man sich in einer guten, ungestörten Welt. Aber was ist normal? Was eine gute Welt? W., dessen polnischer Großvater als Bergmann in Katernberg noch an seiner Staublunge krepiert war, hatte gedrängt: „Wenn du nach Katernberg fährst, achte auf die sieben Kastanienbäume, mehr Bedeutungsvolles aus meiner Kindheit habe ich dort später nicht entdeckt.“ Die Kastanien sind nirgends zu sehen, stattdessen verlassene Industrieanlagen, Schrott, unauffällige Bergarbeiterhäuser, verrammelte Läden, ein ausgebranntes Gebäude und über allem unzählige Satellitenschüsseln. Bedeutungsvolles über Essen-Katernberg stand im „Stern“ Ende letzten Jahres: „Das wahre Elend“, eine Reportage von Walter Wüllenweber über Essens Norden als „bildungsfreie Zone“. Eine Übertreibung.

„Zehn, fünfzehn Minuten müssen Sie noch stadtauswärts laufen“, hatte die Frau an der Bushaltestelle den Weg zur Herbartschule beschrieben. Die Grundschule liegt im Grünen, überragt von alten Bäumen, der Garten gleicht eher einem Bauernhof als einem Schulhof. Ein paar Stufen führen ins Gebäude. Im Foyer hat jemand Leitsätze aufgeschrieben und aufgehängt: „Ich möchte niemandem wehtun.“

In der Klasse 2a hocken drei Studentinnen und zwei Professoren: Verena Eidenberger, Meral Hees und Arnika Ludwig sowie Thomas Heuer und Klaus Feßmann vom Mozarteum in Salzburg, Platz ist nur noch neben Mert und Samet Can auf einem Kinderstuhl.

Mert und Samet Can, die sich gegenübersitzen, sind zwei der 14 türkischstämmigen Schüler der 2a. Drei weitere sind Bosnier, ein Kind kommt aus Kasachstan, eins hat marokkanische Eltern, drei sind Deutsche. Das ist hier normal, ebenso die Fröhlichkeit. Zur „guten Welt“ zählen außerdem der deutsche Lehrer Ingo Worofka und der türkische Lehrer Ilhan Cetin, der sich gerade zu Mert setzt, um ihm beim Ausfüllen eines simplen türkischen Arbeitsbogens zu helfen. „Auto“: Mert kann kaum buchstabieren, Ilhan Cetin wiederholt ihm mehrfach die Folge von Konsonanten und Vokalen, Mert radiert, sinnt, liest von den Lippen des Lehrers, korrigiert, während Samet Can, gegenüber, sehr langsam, aber verständlich, einen deutschen Text liest.
Mert wäre ein toller Fußballspieler, erklärt der türkische Pädagoge später im Lehrerzimmer, obwohl er körperlich etwas behindert sei. Motorisch auffällig bewegen sich andere Kinder der Klasse, wenn sie schreiben oder malen, und wir werden Zeuge von emotionalen Aus- und Einbrüchen, deren Ursachen wohl konzentrationsbedingt sind. Ingo Worofka und Ilhan Cetin haben das seit vielen Jahren des Teamteachings im Griff, sie planen zusammen, begegnen differenziert Konzentrationsschwächen und dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder durch individuelle Zuwendung. Wenn sie an ihre Grenzen geraten, helfen Sozialtherapeuten und Psychologen.

„Wir müssen sie in den vier Jahren fit fürs Regelsystem machen, ohne die Lernfreude und ihre Lernbereitschaft zu zerstören. Bei den Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, ist das wie die Quadratur des Kreises“, sorgt sich Worofka.

Gute pädagogische Bilanz
Was wir Gäste sehen, nennen die Lehrer einen großen Fortschritt. Ursprünglich sollte die Schule 1999 geschlossen werden. Wie solche Pläne auf den Tisch kommen, ist bekannt: 85 bis 90 Prozent Ausländerkinder, große Probleme, mehr oder weniger qualifizierte Kritik einiger deutscher Eltern, Geburtenrückgang und Abwanderung sozial besser Gestellter aus dem Viertel, eine konkurrierende Schule, wo die Verhältnisse etwas besser aussehen, eine Schulbürokratie, die angesichts der Zustände einknickt.

Die Schulbürokratie musste fortan mit dem Engagement der Rektorin Angelika Sass-Leich und ihres Kollegiums rechnen. Gemeinsam setzten sie einen Modellschul-Plan durch, der besonders gefördert wird, und sie gewannen die Yehudi-Menuhin-Stiftung zum Mittun sowie einen Ganztagskindergarten, der die Kinder auf den Schulbesuch vorbereitet. Schon die erste pädagogische Bilanz vor zwei Jahren fiel sensationell aus. Fünf Schüler verließen die Grundschule in Richtung Gymnasium, zehn Richtung Realschulen, vier wurden bei Gesamtschulen und fünf bei Hauptschulen angemeldet. Wie komplex jedoch die Probleme sind, machte erst der „Stern“ publik. Wüllenweber schrieb über das System sozialer Verwahrlosung in Katernberg, über Arbeitslosigkeit, desolate Familienstrukturen, Männer, die sich nicht mehr um Arbeit bemühen, weil sie dann Alimente zahlen müssten. Er schrieb über die mangelhafte Sprachfähigkeit von Migranten in der zweiten und dritten Generation, sowohl in der Herkunftssprache wie auch im Deutschen, über die sich nach unten drehende Bildungsspirale, über Kriminalität, über den Zusammenhang von Fernsehkonsum, Internet und Lebensplanung. Menschen dieser Unterschicht seien die „Zuschauer des Lebens“, stellte Wüllenweber fest, „in unserer heutigen Wirtschaft ist die Unterschicht überflüssig“. Und: „Das Elend ist keine Armut im Portemonnaie, sondern die Armut im Geist.“ Fazit: Keine Zukunft ohne Bildung.

Das stellen inzwischen alle gebetsmühlenartig fest. Aber als der Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann und der Musikprofessor Klaus Feßmann – langjährige Bekannte – diesen „Stern“-Artikel lasen, waren sie erschüttert. „Wir müssen Wege finden, um an die Kinder aus diesen Familien heranzukommen – es ist meine Pflicht, das zu tun“, verkündet Essens Intendant Kaufmann überall mit nicht nachlassender Eindringlichkeit. Zunehmend stelle sich die Frage, wie sich eine auf der Basis des mitteleuropäischen Kulturverständnisses stehende Gesellschaft durch die scheinbar gravierende Werte-Veränderung wandle. Feßmanns Überlegung dazu: Gegensteuern könne man nur, wenn die Pfade der herkömmlichen Schularbeit verlassen würden. Zusammen mit Kollegen des Mozarteums, vor allem mit Thomas Heuer, wurden im Rahmen der Lehrveranstaltung „Musik und Tanz in fächerübergreifenden Gestaltungsprojekten“ Konzepte erarbeitet, wie Musikpädagogen und -studenten der gesellschaftlichen Werte-Erosion begegnen müssten. Feßmann und Heuer sind überzeugt, dass mit dem herkömmlichen Musikunterricht – der oft noch frontal gehalten wird – keinem Aspekt des gegenwärtigen Destruktionsprozesses beizukommen ist.

Künftig würden an Ausbildungsstätten wie dem Orff-Institut der Universität Mozarteum Salzburg spezielle musikpädagogische Module auf Brennpunkte und Deformationen hin entwickelt, angeboten und auch verkauft – um beispielweise Emotionen, Selbstbewusstsein, Körpergefühl und Sozialverhalten zu entwickeln, Aggression, Problemflucht und Ängste abzubauen. Solche Konzepte, überdies mit Kultureinrichtungen an der Seite, müssen die Schule zum Lernort von Lebensbewältigungsstrategien aufwerten, sind sich Feßmann, Heuer und Kaufmann gewiss. In diesem Geist jedenfalls wurde „ReSonanz&AkzepTanz“ geboren.

Noch sind sie in Essen-Katernberg damit am Anfang. Alle Kinder sind in die Philharmonie eingeladen worden. Es gab Pizza, ein Philharmonie-T-Shirt und ein kleines Orgelkonzert zum Kennenlernen. Ein Riesen-Hallo. Bei der Einweihung der neuen Turnhalle fand ein Gegenbesuch statt, und die Philharmonie stiftete eine Klanginstallation. Alle sind begeistert. Die Religionslehrerin findet ein schönes Bild: „Kulturell sind unsere Kinder wie frisch gefallener Schnee.“ Das wird sich im Dezember ändern, wenn die Philharmonie in der Turnhalle für Kinder, Eltern und Freunde zweimal „Hänsel und Gretel“ aufführt und ein Schulchor gegründet ist. „Die sind ja völlig offen für alles“, sagt die Lehrerin Löcher und erzählt, wie die Kinder kaum zu bändigen sind, wenn sie tanzen dürfen und trommeln können – auf jeder Blechbüchse.

Endlosdiagnostik nötig

Wir besuchen eine Sportstunde. Manche Kinder dieser ersten Klasse bewegen sich dennoch wie Spastiker zur Erkennungsmelodie der „Sendung mit der Maus“, die die Lehrerin aus einem plärrenden Recorder abspielt. „Genau das wird sich ändern“, erklärt Feßmann, der sich über das rhythmische Tohuwabohu beim Klatschen wundert: „Was haben die nur im Kindergarten getrieben?“

Zwei Lehrerinnen beaufsichtigen die Klasse, die drei Studentinnen beteiligen sich an den simplen Spielen. Die Lehrerinnen sehen nicht, wie sich einige der Jungen treten und Jagd auf eines der Mädchen machen. „Bei einigen der Kinder ist eine Endlosdiagnostik nötig – und ein Verhaltenstherapeut, aber es wird immer schwieriger, in akuten Fällen Termine zu bekommen“, erzählt Frau Löcher. Sie hat 16 Jahre in England gelebt, ist seit einem Jahr wieder in Essen und hat schon einmal an einer Schule mit ähnlichem Brennpunkt gearbeitet. Sie erzählt von einer Schulfahrt im vergangenen Jahr ganz in die Nähe von Essen. Die Kinder seien fast ausgeflippt, als sie vom Bus aus die ersten Felder und Tiere entdeckten. „Ich hatte einen riesigen Kloß im Hals – für die endet doch die Welt normalerweise am nächsten Penny-Markt.“ Normalerweise? Auch das wird sich ändern. Im Schulflur hängen die Kinder wie Trauben an den Studentinnen, um sie zum Abschied zu umarmen.

Sie sind längst wieder in Katernberg gewesen. Seit Anfang November kommen sie sogar jede Woche, um mit den Kindern zu musizieren und zu tanzen. In jeder Schulstunde.

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