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AMPF-Tagung virtuell: „Digitalisierung als kulturellen Prozess forschend mitgestalten: Perspektiven für die Musikpädagogik“ – Benjamin Jörissens Keynote ist auf dessen YouTube-Kanal verfügbar.
AMPF-Tagung virtuell: „Digitalisierung als kulturellen Prozess forschend mitgestalten: Perspektiven für die Musikpädagogik“ – Benjamin Jörissens Keynote ist auf dessen YouTube-Kanal verfügbar.
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Digitalisierung als kultureller Prozess

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Bericht von der online durchgeführten Jahrestagung des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung 2020
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Bereits 2019 war Benjamin Jörissen eingeladen worden, die für 2020 geplante Jahrestagung des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung (AMPF) mit einem Vortrag zum kulturellen Prozess der Digitalisierung zu eröffnen. Damals war noch nicht absehbar, dass die Tagung online durchgeführt werden würde, wodurch sich, wie AMPF-Vorstandsmitglied Anne Niessen in ihrer Begrüßung feststellte, eine im Vorfeld ungeahnte Deckung von Form und Inhalt ergab. Dass mit 238 Teilnehmer*innen ein Rekord an Anmeldungen zu verzeichnen war, zeigt, dass Digitalisierung die Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten mit sich bringt: Eine Auswirkung, die in den Vorträgen der Tagung wiederholt thematisiert wurde.

Kulturelle Bildung

Benjamin Jörissen nannte in seiner Keynote als zentrale Aufgabe von Forschung zur Digitalisierung in der kulturellen Bildung (DiKuBi), die Komplexität digitaler Bildung zu beobachten, zu analysieren und zu verbalisieren. Auf YouTube veröffentlichte Tutorials zum Erlernen eines Instruments werden ebenso zum Studienobjekt wie die „Memes“ der Plattform TicToc oder digitale Jamsessions. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass digitale Medien Entgrenzungen zwischen bisher getrennten Bereichen – Professionellen und Amateuren, Produzent*innen und Rezipient*innen, Autor*innen und Interpret*innen – ermöglichen. Durch die hybride Verschränkung tradierter Praktiken und digitaler Technologien bekommen zudem signifikant mehr Menschen die Möglichkeit, kreative Potenziale auszuleben.

Einen Überblick über die Forschungsergebnisse der Projekte AppKOM, LEA und LINKED gaben die sich anschließenden Vorträge. Johannes Hasselhorn (AppKOM) stellte die Methodik einer Studie dar, in der die Erweiterung musikalischer Kompetenzen von Schüler*innen durch Song-Komposition mithilfe des klassischen Bandinstrumentariums und mithilfe digitaler Musik-Apps miteinander verglichen wurde. Die Forschergruppe um Linus Eusterbrock (LEA) begleitete professionelle Musiker*innen und ging der Frage nach, inwieweit die Nutzung digitaler Technik neue ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Matthias Haenisch (LINKED) setzte sich mit dem Transfer von sozialen Organisations- und Vernetzungsformen in die digitale Welt auseinander. Am Beispiel der Software Ableton Link wurde gezeigt, welche Regeln sich Gruppen von Musizierenden für ihre kollaborative Kreativität geben und welche Auswirkungen dies auf den Prozess der Subjektivierung hat.

Kulturelle Teilhabe

Welche Zugänge ermöglichen, welche Barrieren verhindern Teilhabe an Angeboten musikalischer Bildung? Welche langfristigen Effekte sind im Lebensweg der Teilnehmenden zu beobachten? Diesen Forschungsfragen gingen Wissenschaftler*innen im Rahmen des Projektes WilmA nach. Im Teilprojekt „Musik und Persönlichkeit“ untersuchte Valerie Krupp den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften und der Teilnahme an schulischen Musik-AGs und belegte, dass Schüler und Schülerinnen (SuS), die an Musik-AGs mitwirkten, signifikant höhere Werte in Bezug auf die Persönlichkeitseigenschaft ‚Offenheit‘ aufweisen als die SuS der Vergleichsgruppe ohne Musik-AGs. Rebecca Langer verglich im Teilprojekt „Bühne frei“ die Persönlichkeitseigenschaften von musizierenden SuS mit denen derjenigen SuS, die an anderen schulischen Angeboten kultureller Bildung teilnahmen und kam zu dem Ergebnis, dass musizierende SuS höhere sozial-ökonomische Eigenschaften sowie einen höheren IQ, jedoch eine geringere Kooperationsbereitschaft und höhere soziale Ängste als zum Beispiel Theater spielende SuS haben.

Die musikalischen Aktivitäten junger Erwachsener nahmen Tanja Hienen und Eva Schurig im Teilprojekt „Musik begleitet“ in den Blick und untersuchten, welche Auswirkungen der Teilnahme an Projekten wie JeKi oder JeKits bei jungen Erwachsenen zu Beginn ihrer Berufsausbildung nachzuweisen sind. Über eine längere Lebensstrecke verfolgten Natalia Ardila-Mantilla, Sophie Reiland und Michael Göllner die Auswirkungen musikalischer Bildung im Rahmen des Projektes SpurTe, in dem sie Menschen befragten, die mindestens drei Jahre lang an einer Musikschule unterrichtet wurden. Im Verlauf der Interviewstudie wurde deutlich, dass vor allem ungeplante Brüche den kulturellen Lebensweg eines Menschen prägen und dass Forschende diese erfassen müssen, um das Narrativ einer musikalischen Biografie verstehen und erklären zu können.

Forschungsmethoden

Die Neuentwicklung für und der Transfer von Forschungsmethoden in das musikpädagogische Forschungsfeld waren ebenfalls zentrale Themen der AMPF-Tagung. Lukas Bugiel stellte in einem Vortrag über die empirische Rekonstruktion der Anlässe und Verläufe musikalischer Bildungsprozesse dar, wie Forschungsansätze aus der Biographieforschung für die Musikpädagogik nutzbar gemacht werden können. Die Auswertung von Transkriptionen und Videographien von Interviews ist ein empirisches Forschungsinstrument, das innerhalb der Ethnologie entwickelt wurde, um das fluide und beeinflussbare Feld menschlicher Interaktion wissenschaftlich abbilden und analysieren zu können. Die Referenten Jan Jachmann und Olivier Blanchard setzten sich in ihren Vorträgen denn auch mit methodologischen Grundannahmen ethnographischer Praxis auseinander. Jachmann nannte die Beschreibung komplexer Realitäten, die Ermöglichung eines produktiven Nebeneinanders verschiedener Interpretationen sowie die kritische Weiterentwicklung bestehender Theorien als geeignete methodische Voraussetzungen zur Vermittlung zwischen der empirischen Beobachtung individuellen, situativen Handelns in der Praxis und Theorien über Handlungs- und Denkmuster von Menschen. Olivier Blanchard schilderte, welche Auswirkungen die Präsenz der Forschenden innerhalb des untersuchten sozialen Feldes auf das Feld und die Forschenden hat. Ein gründliches Kontextwissen über das Feld und die dort wirkenden Diskurse sowie die Reflexion über den erkenntnistheoretischen Standpunkt der Forschenden sind Spezifika der Ethnographie, mithilfe derer das eigene Forschungsverhalten reflektiert in die Forschungsergebnisse mit eingeht.

Die Brücke in die pädagogische Praxis von Kindergärten und Musikschulen schlug anschließend Anne Steinbach. Sie referierte, wie Lehrkräfte in der Fähigkeit des wahrnehmenden Beobachtens geschult werden, um so die Entwicklungsprozesse von Kindern zu erfassen und zu dokumentieren. Die Einblicke in die Forschungswerkstatt dienten dem Austausch der Forschenden untereinander und boten Studierenden und Promovierenden die Gelegenheit, ihr methodisches Wissen zu erweitern.

Postersession

Die in der Keynote von Benjamin Jörissen beschriebene Verschränkung tradierter Praktiken und digitaler Technologien wurde innerhalb der Tagung im Feature „Postersession“ beispielhaft deutlich. Wo bisher Flip­charts im Foyer aufgebaut wurden, gab es nun einen digitalen „Poster-Rundgang“. Insgesamt acht Forschungsgruppen hatten graphische Darstellungen ihrer Ergebnisse mit kurzen Videos kombiniert, in denen sie diese verbal erklärten; anschließend wurden die Ergebnisse in Zoom-Räumen diskutiert. Diana Versaci und Christian Rolle stellten hier neue Erkenntnisse über Veränderungsprozesse an Musikhochschulen dar. Sie beobachteten eine Weiterentwicklung der Curricula zu modularisierten Professionalisierungsangeboten, die Kompetenzen der ästhetischen Selbstdarstellung im Rahmen von Websites sowie mediale Vermarktungsstrategien vermitteln. Dies soll Studierende darin unterstützen, das „Entrepreneurial Self“ (Versaci & Rolle) zu entwickeln, das der von Jörissen formulierten „neuen Normalität des permanenten OnStage-Seins“ gerecht werden kann.

Fazit und Ausblick

Die technischen und didaktischen Anforderungen einer Online-Tagung wurden von Ausrichtenden und Teilnehmenden gleichermaßen souverän bewältigt. Im Verlauf der Tagung war wiederholt informelles Lernen und Lehren zu beobachten, so dass am Ende der drei Tagungstage alle Beteiligten neue Anregungen in der Handhabung von Online-Lehre gewonnen hatten. Im abschließenden Meinungsbild wurden der durch die wegfallende Anreise geringere Zeit- und Kostenaufwand und die Vor- und Nachbereitungsmöglichkeiten durch aufgezeichnete Vorträge positiv bewertet. Spontane Begegnungen wurden durch die Plattform wonder.me ermöglicht, auf der sich die Wissenschaftler*innen in den Kaffeepausen treffen konnten. Dass dieses Feature zum absoluten Gewinner der Feedbackrunde wurde, zeigt, dass das Bedürfnis von Menschen nach Begegnung und die Kreativität in der Herstellung von Begegnungsmöglichkeiten auch in den Zeiten der Pandemie ungebrochen sind.

Digitalisierung wird auf vielen Ebenen des kulturellen und pädagogischen Lebens wirksam; entsprechend viele unterschiedliche Forschungsperspektiven ergeben sich. Den Organisator*innen der AMPF-Tagung 2020 gelang es mit der Zusammenstellung ihres Tagungsprogramms, diese Vielfalt abzubilden. Interessant war der fluide Wechsel zwischen einer selbstreflektierenden Perspektive, die das eigene Forschen in den Blick nimmt und dem auf das zu erforschende Sozialfeld gerichteten Blick. Es ist zu wünschen, dass sich die Diversität der Anforderungen und Potentiale digitaler kultureller Bildung zunehmend auch im Design von Förderrichtlinien niederschlägt. Wenn politisch gleichermaßen in die Verbesserung digitaler Infrastruktur an Bildungsinstitutionen, in die Fortbildung der Lehrenden und in den Aufbau digitaler Formate künstlerischer Bildung investiert wird, kann die Chance genutzt werden, mit neuen, digitalen Bildungsangeboten einer größeren und vielfältigeren Menge von Menschen die Teilhabe an kultureller Bildung zu ermöglichen.

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