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Ein junges Zweiglein aus der Lende des Baumes

Untertitel
Vor 75 Jahren starb der mährische Komponist Leoš Janácek &#183
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Der so früh verstorbene kompositorische Querständer Werner Pirchner erzählte einmal, dass er sich in eine Radiosendung einschaltete, in der immer wieder Werke junger Komponisten zu hören waren. Ein Stück für Bläser erklang und er freute sich, dass der vermeintlich junge Zeitgenosse sich getraute, endlich einmal Musik außerhalb des avantgardistischen Mainstreams, dabei ganz originell und zutiefst musikalisch zu schreiben. Die Überraschung bei der Absage war groß. Es war das Stück „Mládi“ aus dem Jahr 1924 von Leoš Janácek, der zur Zeit der Komposition 70 Jahre alt war.

Trotz des Irrtums traf die Beobachtung viel. Allein schon der Titel, er bedeutet auf deutsch Jugend, zeigt nicht ein Werk des Rückblicks an, sondern eines des Aufbruchs. Und die Techniken sind so kühn und unverbraucht, dass sie auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch als modern gehört werden. Es verwundert deshalb auch nicht, dass Janácek Anfang der 20er-Jahre führend zur tschechischen Sektion der eben gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik angehörte. Der 70-Jährige war Vertreter der neuen tschechischen Musik und fand sich unter Komponisten, die ein bis zwei Generationen jünger waren, zum Beispiel Paul Hindemith oder Anton Webern (übrigens schätzten sich Janácek und Webern gegenseitig ganz außerordentlich, obwohl ihre musikalischen Sprachmittel hörbar außeinanderklafften).

Dort, unter die kompositorische Jugend, gehörte Janácek aber auch hin. In den letzten zehn Jahren seines Lebens, also, dies als Trost für manch schon verzagend Hoffenden, im „Pensionsalter“, entstand in einem enormen Schaffensschub ein Großteil seiner wichtigsten Arbeiten (Janácek, geboren 1854 im mährischen Ort Hukvaldi, starb vor 75 Jahren am 12. August 1928): darunter die Opern „Die Ausflüge des Herrn Broucek“, „Kátja Kabanová“, „Das schlaue Füchslein“, „Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“, dazu die „Sinfonietta“ und die Tondichtung „Taras Bulba“, die grandiose „Glagolitische Messe“, der Liederzyklus „Tagebuch eines Verschollenen“ sowie ein Großteil seiner Kammermusik (darunter die autobiographischen zwei Streichquartette).

Damals schrieb Janácek: „Ich habe den Eindruck, als sei mir in meinem letzten Werk, in der Sinfonietta, am besten gelungen, mich so dicht wie nur möglich dem Gemüt des schlichten Menschen anzuschmiegen. Auf diesem Weg möchte ich weitergehen. Obwohl ich bei Jahren bin, beginnt, so will mir scheinen, in meinem Schaffen ein neues Äderchen, ein neues Zweiglein zu wachsen. Wie an den vier- oder fünfhundertjährigen Hukvalder Bäumen: Man schaut hin und aus der Lende des Baumes wächst ein junges Zweiglein hervor. Meine letzte schöpferische Periode – die ist so ein neuer Ausbruch einer Seele, die mit der übrigen Welt fertig ist und dem schlichten tschechischen Menschen so nahe wie nur möglich sein will.“

Leben, ein emphatischer Begriff davon, individuell erfüllt, zugleich aber letztliche existenzielle Grundlage, darum kreist jede musikalische Aussage Janáceks. Noch kurz vor seinem Tode hatte er geäußert: „Das Leben vor allem. Immer die ewige Jugend. Das Leben ist jung. Ich fürchte mich nicht zu leben, ich lebe furchtbar gerne.“ Seine Musik ist Aufschrei, ist bis in die letzten Fasern Gier nach Leben, das dem Tod abgerungen wird: blutig und unerbittlich. Dieses immer wieder An-den-existenziellen-Rand-Gehen ist ästhetischer Auftrag für Janácek. In einem Brief an Max Brod, den großen tschechischen Feuilletonisten (Freundschaft zu Franz Kafka wie zu Janácek) schrieb er 1924: „Ein Mensch schwatzte vor mir, nur der reine Ton bedeute etwas in der Musik. Und ich sage, dass er gar nichts bedeutet, solange er nicht im Leben, im Blut, in der Umwelt steckt. Sonst ist er ein Spielzeug, das keinen Wert hat.“

Der Ton muss im Leben, im Blut stecken. Darin erteilt Janácek seinen Auftrag an das künstlerische Schaffen der Zukunft. Es ist durchaus kein einfacher Auftrag, erfordert letzte Hingabe, Emphase und Bescheidenheit zugleich. Er meint, dass kein Ton, keine musikalische Phrase geschrieben werden darf, die nicht durch das Purgatorium der menschlichen Hilfeschreie gegen das Fatum gegangen sind. Über viele Jahrzehnte hat Janácek mit einem Notizbuch bewaffnet Sprechmelodien gesammelt – ob es sich nun um eine Äußerung einer Bäuerin am Dorfplatz handelte, um das Schelten eines Kindes, um militärische Anweisungen auf dem Appellplatz, um einen Streit zwischen einem Paar oder auch um einen wissenschaftlichen Vortrag. Janácek notierte alles – und auf wundersame Weise bekamen dadurch die einfachen Wendungen eine zweite, tiefere Existenz. Ein Beispiel: zwei Frauen, wartend am Bahnsteig. Janácek notierte: „Auf dem erhöhten Gehsteige schüttelte sich die Größere, die mit gesunden, rosigen Wangen, in einen rötlichen Wintermantel gekleidete. Erregt sprach sie: ‘Wir stehen hier und ich weiß, er kommt nicht!’ Ihre Gefährtin, mit bleichen Wangen, in ein dunkles, ärmliches Jäckchen gekleidet, fiel in den letzten Ton mit dunklem, traurigen Seelenecho ein: ‘Das macht nichts!’ Und rührte sich nicht, halb aus Trotz, halb in Erwartung! (beide Äußerungen hielt Janácek in Noten fest, R.S.). Ich ging weiter und trug in meinen Gedanken, schon in Noten gesetzt und mensuriert, dieses kurze Gespräch. Etwas entfernt drehte ich mich um; im Nebel verschmolzen beide Gefährtinnen in einen unbestimmten dunklen Schatten auf weißem Schnee. Ich möchte raten: dass der Lebensroman beider einen verschiedenen Weg gehen wird? – Ich hebe die Tonschönheit dieses Gesprächs hervor (Janácek fügt Aussage und Antwort mit Basisharmonien versehen zu einer musikalischen Phrase zusammen, R.S.). Ihr Mädchen, ihr wart euch dieser Tonschönheit eurer Sprache nicht bewusst. Ihr ahnt nicht, dass durch sie nicht nur euer Inneres enthüllt wurde, sondern weit mehr!“ In jedem Satz, in jeder sprachlichen Äußerung also ist ein ganzes Leben geborgen, Erfahrungen, Hoffnungen, Frage, immerwährende Frage nach schicksalhaftem Sinn. Es braucht nur – es ist ein gewaltiges „nur“ – das vernehmende Ohr, den aufmerkenden Menschen.

Der Janácek-Forscher Jan Racek merkte zu solchen Notizen an: „Melodische Färbungen der Sprache, diese winzigen und zufälligen Charakteristika des klanglichen und rhythmischen Laufes der menschlichen Redeweise, sammelte Janácek planmäßig, fast sein ganzes Leben lang als Beweismaterial für die lebendige Sprache verschiedener Gegenden und verschiedener Volksschichten. Von diesen Sprechmelodien zeichnete Janácek unerschöpfliche Mengen auf. Er sammelte sie, wo immer er sich befand, sei es auf belebter Großstadtstraße oder in der idyllischen Stille ländlicher Natur unter einfachen Leuten. Hier muss man die Wurzeln für Janáceks Musikstil suchen, denn er wertete sie durch einen höheren Stilisierungsprozess in neue gedankliche Gebilde der musikdramatischen Sprache um. Diese Sprechmelodien bedeuten ihm mehr als nur einen Ausdruck des Charakter-Temperaments. Er findet in ihnen nicht nur den natürlichen Rhythmus und den melodischen Duktus der gesprochenen Sprache, sondern hört in ihnen auch Reflexe zarter seelischer Regungen, Einflüsse der Umgebung und des Klimas. Er bemüht sich, in ihnen alle Affekte menschlicher Natur zu erfassen: Freude, Gram, Leidenschaft, selbst geringste innere Spannung und Lockerung.“

Wenn man sich fragt, was die Gründe für Janáceks Schaffensexplosion in seinen letzten Jahren sind (eine Explosion, die ihn vom tschechischen, lange Zeit auf das gegenüber Prag provinzielle Brünn fixierten Meister zum großen Vordenker musikalischer Entwicklung, musikalischer Möglichkeiten und Notwendigkeiten emporschleuderte), dann kann man nicht im Einzelnen findig werden. Da waren natürlich die Emanzipation des tschechoslowakischen Staates gegenüber den österreichischen Habsburgern, da waren auch die sich so spät einstellenden Erfolge (die Oper „Jenufa“ war 1904 in Brünn mit großen Erfolg uraufgeführt worden, aber erst die Aufführung 1916 in Prag verschaffte internationale Anerkennung). Da war natürlich auch die Liebe zu Kamilla Stösslová, die Janácek 1917 kennen gelernt hatte – der 63-Jährige war der 25-jährigen, verheirateten Frau begegnet und fokussierte fortan sein schöpferisches Tun auf ihr so unverkrampft daseinsfreudiges Wesen. Was aber war das? Es war, so darf man annehmen, eine unbewusste (das „un“ wäre mit einem Fragezeichen zu versehen) Projektion des Begriffs Jugend, also des Fortgangs des Lebens, auf eine verehrte Frau. Ob Stösslová Janácek auch liebte? Der Altersabstand von knapp vierzig Jahren war wohl, pragmatisch gedacht, zu groß. Sie liebte ihn anders, im Sinne gegenseitiger synergetischer Aufladung – und es darf angenommen werden, dass Janácek gerade diesen Zustand so schätzte. Sein ästhetischer Anspruch hatte einen Außenhalt gefunden.

Dieses Umfeld, dazu die gewachsene Sicherheit des eigenen musikästhetischen Gangs, auch das gewaltige Reservoir der gesammelten Sprechmelodien, die auch das eigene innere Erleben auftürmten, führte zu grandiosen musikalischen Kühnheiten. Auch dies ist ein Zeichen Janáceks für die musikalische Zukunft: Kühn kann man nur sein, wenn man Basis hat. Alles andere ist im besseren Fall frech oder verwegen, im schlechteren Profilierungsdrang und Eitelkeit. Wirklich kühn ist nur der (kann nur der sein), der sich mit größter Anstrengung Rückendeckung verschaffte. Die Rückendeckung Janáceks aber, es ist die größte überhaupt, ist der Mensch, der einfache Mensch. Wer den Halt dazu (also zu den Basisbedingungen des Seins) verliert, bleibt im luftleeren Raum. Seine schöpferischen Produkte verspielen sich.

Ein Blick auf die „Glagolitische Messe“: Sie entstand 1926. Ein Kritiker schrieb damals: „Der Greis Janácek, ein Mann von festem Glauben, habe immer drängender empfunden, dass in seinem Lebenswerk die sein Verhältnis zu Gott ausdrückende Komponente nicht fehlen dürfe.“ Janácek entgegnete darauf lakonisch: „Weder Greis noch gläubig!“ – Wer die geballte Wucht dieses Werks vernimmt, begreift: Hier sind alle Regeln der Konvention außer Kraft gesetzt. Hier sind Menschen, die nach Sinn fragen und im Fragen Sinn herstellen. Mehrere Jahrtausende fragen und laufen in diesem Stück zusammen. Gott, das ist keine Frage ins Jenseits. Hier sind wir, hier wollen wir sein. Die Orgelzwischenspiele der „Glagolitischen Messe“ übertreffen alles, was für Orgel vor- und nachher geschrieben wurde: Sie sind Exzesse menschlichen Wühlens auf über Tasten in Gang gesetztem Klang, schrundig, verletzlich und zugleich wild um sich schlagend, brutal (keine Improvisation, nicht „Volumina“ von Ligeti kommen dieser Unmittelbarkeit nahe). Und dann das Schlussstück! Janácek schreibt „Intrada“ darüber. Wohin treten wir ein, nach kirchlicher Versammlung? Es ist nur eines: Wir treten zurück ins Leben! Immer und immer wieder! Nie wurde dieses Gefühl so emphatisch, so überbordend wahr wie am Ende der „Glagolitischen Messe“. Es ist Taumel, es ist Drängen. Und das ist Janáceks großes Vermächtnis (wie oft vermissen wir es heute!): Es gibt keine Kunst ohne Leben!

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