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Ein Musik-Kontinent wird erforscht

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Salvatore Sciarrino im Zentrum des Konzertprogramms der Salzburger Festspiele
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Die Salzburger Festspiele zeigen ein Doppelgesicht: Während die Opernaufführungen in ihrer Qualität szenisch und musikalisch oft Defizite aufweisen, präsentiert sich das Konzertprogramm dramaturgisch klug durchdacht. Wie im Vorjahr bilden zwei Komponistenschwerpunkte das Zentrum: Nach Scelsi und Schumann diesmal Salvatore Sciarrino und Franz Schubert. Darüber hinaus zog sich auch eine Bartók-Linie durch die Konzerte, und in der Oper erlebte man eine interessante Kombination von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ mit der „Cantata profana – Die neun Zauberhirsche“ sowie den „Vier Orchesterstücken“ op. 12. Im sogenannten „Kontinent Sciarrino“ fand vor allem die Aufführung der Kammeroper „Luci mie traditrici“ das größte Interesse.

Die alte Regel, eine neue Oper erlebt zwar die Uraufführung, danach aber ruht sie in alle Ewigkeit im staubigen Archiv ihres jeweiligen Musikverlages, gilt nicht mehr. Allein Salvatore Sciarrinos vor zehn Jahren in Schwetzingen uraufgeführtes Musiktheater „Luci mie traditrici“ erfuhr in der Zwischenzeit mehr als ein  halbes Dutzend Neuinszenierungen, in Deutschland dabei unter dem etwas zu reißerischen Titel „Die tödliche Blume“. Die „Verräterischen Augen“ des Originals treffen Sciarrinos Intentionen sehr viel präziser. Denn „Luci mie traditrici“, wo das Psychogramm eines doppelten Eifersuchtsmordes in der Renaissancezeit aufgefaltet wird, ist in den nach innen verlegten Vibrationen zugleich ein sehr modernes Nervenstück von oft schmerzender Schönheit. Die psychischen Vibrationen durchziehen, durchzucken auch die Musik und den Gesang, arios-melismatische Wechselreden mit oft abgerissenen Endsilben, die der Vokalität eine gespannte, bohrende Monotonie verleihen.

Salvatore Sciarrino gehört zu den markantesten Komponisten der Gegenwart. Sein Werk folgt nicht irgendeiner Richtung oder Schule, sondern entwickelt sich unabhängig von allen Einflüssen mit bemerkenswerter Stringenz. Das war in Salzburg eindrucksvoll zu erfahren. In neun Konzerten wurde das Schaffen Sciarrinos musizierend reflektiert, gleichsam als prismatische Brechungen wurden auch Luigi Nono und Beat Furrer in das Programm aufgenommen: als Exponenten einer Musik der Stille, des Leisen, des Nach-Innen-Horchens.

Den gewichtigen Auftakt des „Sciarrino-Kontinents“ bildete die szenische Aufführung von „Luci mie traditrici“ in  der Kollegienkirche. Der eindrucksvolle architekturale Rahmen des großen Kirchenschiffs korrespondierte dabei ideal mit den inneren Dimensionen des Werkes: Sciarrinos Seelenerkundung weitete sich zugleich zur großen Geste eines Renaissance-Dramas. Schon Stendhal bewunderte aus der Sicht seines (klein)bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts die „großen Taten“ der Renaissance-Menschen, auch wenn diese gegen Gesetz und Moral verstießen. Der Mord des Fürsten und Komponisten Gesualdo an seiner Frau und dessen Geliebten, der der Handlung als „wahre Begebenheit“ zugrunde liegt, ist eine von diesen grausamen „großen“ Geschichten, die Giacinto Andrea Cicognini schon 1664 in seinem „Il tradimento per l’onore“ verarbeitete. Sciarrino selbst verfasste danach sein Libretto.

Die Salzburger Aufführung sollte ursprünglich Klaus Michael Grüber inszenieren. Jetzt war sie dem Andenken an den großen Regisseur gewidmet. Für ihn übernahm Rebecca Horn, bekannt vor allem als Malerin und für ihre phantasievollen Performances, die Regie einschließlich Bühnengestaltung und Kostüme. Die eher kleine Bühne im Altarraum wird hinten von einer hohen Videowand begrenzt, auf der ein Rosengestrüpp zu sehen ist, von dem schma-le Farbenstreifen nach unten gleichsam „tropfen“. Später tanzen Rosenblätter über die Leinwand, und noch später, wenn die blutige Geschichte ihrem Höhepunkt zustrebt, ziehen blutrote Streifen und Verschmierungen assoziativ zum realen Geschehen durch das bewegte Bild. Die Absicht dieser optischen Gestaltung ist klar, sie wirkt jedoch ein wenig zu dekorativ.

Die Figuren wurden dafür von Rebecca Horn sehr sorgfältig und einfühlsam geführt. Gesten, Haltungen, Bewegungen korrespondierten sehr präzis mit den Vorgaben der Musik. Die Aufführung erreichte dabei eine hohe Dichte und gespannte Expressivität, zumal auch die Sänger Sciarrinos speziellen Vokalstil perfekt trafen: die mitunter geradezu virtuose Anverwandlung und Weiterentwicklung des barocken Affekten-Gesanges, der durch eine differenzierte Klanglichkeit eine fast psychoanalytische Dimension gewinnt. Otto Katzameier als „Il Malaspina“ und Kai Wessel als „Der Gast“ haben ihr Partien schon in anderen „Luci mie traditrici“-Inszenierungen gesungen, sie wirkten auch hier souverän. Aber auch Anna Radziejewska als „La Malaspina“ stand ihnen in der Prägnanz der Artikulation nicht nach. Und Simon Jaunin als ebenso eifersüchtiger wie verräterischer „Diener“ – auch er liebt die Gräfin – führte einen treffenden realistisch-kräftigen Tonfall in das vokale Klangbild ein.

Wahre Klangwunder entströmten  dem hochliegenden Orchestergraben. Beat Furrer und das Klangforum Wien sind mit dem Werk engstens vertraut. Geisterhafte Flageolett-Wirkungen, Anblashauchen, Rascheln, Fauchen und andere Geräusche durchziehen Sciarrinos Pianissimo-Partitur mit ihren vielen Klangfarben, melodischen Reizungen und rhythmischen Kürzeln, aus der dann die dramatischen Pointierungen wie Klang-Felsen hart und unerbittlich hervorspringen. Wie die Musiker des Klangforums alles realisierten, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit und Souveränität die Musik dahin fließt, das ließ einen vor Bewunderung oft den Atem anhalten.

Der „Luci mie traditrici“-Aufführung war, ebenfalls in der Kollegienkirche, die Uraufführung von Sciarrinos „12 Madrigali“, einem Auftragswerk der Salzburger Festspiele, vorausgegangen. Sechs Haikus des japanischen Dichters Matsuo Basho (1644–1694) wurden von Sciarrino in einer eigenen Übersetzung je zweimal vertont, wobei sich durch entsprechende veränderte Akzentuierungen jeweils neue, eigenständige Vokalsätze ergeben. Naturerscheinungen, Spiegelungen, Strukturen in der Landschaft, die in den Gedichten zur „Sprache“ kommen, werden in musikalische Strukturen übersetzt. In der perfekten Wiedergabe durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart gewannen die Madrigali ein Höchstmaß an leuchtender Klanglichkeit, Transparenz und Plastizität.

Doppelmord mit Puppen

Salvatore Sciarrinos Theaterphantasie zeichnet neben großem Ernst auch eine spielerische Leichtigkeit aus. Auf die Tragödie folgte in Salzburg das Satyrspiel: noch einmal die Geschichte vom Doppelmord des Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, an seiner Gemahlin und deren Liebhaber, diesmal als ein buntes, farbenprächtiges und natürlich auch blutiges Marionettentheater: „Terribile e spaventosa storia des principe di Venosa e della bella Maria“ – so der Titel – wird von prächtig ausstaffierten sizilianischen Stabpuppen dargestellt. Die Spieler der Compagnia Figli d’arte Cuticchio führen ihre „Figuren“ virtuos durch die grelle, oft mit Komik durchschossene Handlung. Ein  Erzähler steuert erläuternde Texte bei und Sciarrino liefert den vier Saxophonisten des Lost Cloud Quartets, einer Vokalistin und einem Schlagzeuger eine hinreißend inspirierte Musik, die in ihrer Klangwirkungen und Pointierungen scheinbar einfach und volkstümlich erscheint, in Wahrheit aber äußerst raffiniert alte barocke Madrigalkünste reflektiert. Mehr als einmal während der Vorstellung ertappte man sich dabei, die „Luci mie traditrici“-Aufführung vorübergehend zu vergessen. So spannend kann Marionettentheater sein, wenn es sich mit kreativer Phantasie verbündet.

Die Salzburger „Kontinent“-Dramaturgie, für die Markus Hinterhäuser als spiritus rector zuständig ist, lässt ihren jeweiligen „Kontinent“-Eroberer nicht allein. Luigi Nono und Beat Furrer wurden als Geistesverbündete in das Programm integriert. In der Kollegienkirche erfuhr Furrers Hör-Theater „Fama“ eine eindrucksvolle Aufführung, auch wenn der hölzerne Lamellenkasten, in dem bei der Donaueschinger Uraufführung das Publikum saß, während die Musik von außen durch mobile Öffnungen in den Zuhörerkasten hineingespielt wurde, in der Kirche nicht realisierbar war. Durch geschickte Aufstellung von Holzwänden und die Einbeziehung der Seitenschiffe ergab sich gleichwohl ein anschauliches und „anhörbares“ Bild von den Intentionen der Komposition. Isabelle Menke führte als Schnitzlers „Else“ mit schöner Eindringlichkeit und in enger Korrespondenz mit den gleichsam psychologisierenden Klängen den langsamen psychischen Verfall der Figur vor. Das Klangforum Wien unter Furrers Leitung, das Vokalensemble NOVA und Eva Furrer im Kontrabassflötensolo agierten auf dem gewohnten Höchstniveau.

Der Luigi Nono-Abend brachte zwei bekannte Titel: „No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkovskij“ für sieben instrumentale „Chöre“, leicht indifferent gespielt von der „basel sinfonietta“ unter Fabrice Bollon. In „La lontananza nostalgica futura“ wanderte Melise Mellinger, vom „ensemble recherche“, auf den Spuren Gidon Kremers und Irvine Ardittis durch den Kirchenraum, die Nonos Werk am selben Ort schon aufgeführt hatten. Melise Mellinger und Sciarrino als Klangregisseur tasteten sich sensibel in Nonos Klang-Wanderräume hinein, insgesamt aber fehlte der Darstellung etwas jene von innen kommende Energieabstrahlung, wie sie besonders Irvine Arditti verströmte.

Vielleicht stand auch der vollbesetzte (zu?) große Kirchenraum einer konzentrierteren Wirkung ein wenig entgegen. An Ernsthaftigkeit und interpretatorischer Kompetenz aber brauchte man bei Melise Mellinger nicht zu zweifeln. Das war in ihrem Spiel immer erfahrbar.

Eine zweite geigerische Instanz der modernen Musik brillierte in einem anderen Konzert: Carolin Widmann brachte Sciarrinos Paganini-Adaption „Sei capricci per violino solo“ mit kaum glaubhafter Virtuosität förmlich zum Funkeln. Der Flötist Mario Caroli präsentierte seine hohe Musikalität in einer Bearbeitung von Bachs „Toccata e Fuga in re minore BWV 565“ für Flöte von Sciarrino, der auch einige Sonata-Sätze Scarlattis für ein Saxophon-Quartett, das hervorragende XASAX-Ensemble, einrichtete. Es ist stets verblüffend, mit welcher Sicherheit es Sciarrino versteht, aus historischen Vorlagen mit seinen eigenen kompositorischen Mitteln eine Art Essenz herauszufiltern.

Einen bannenden Eindruck hinterließ auch Sciarrinos „La perfezione di uno spirito sottile“ für Flöte, Stimme und Glocken: Eine subtil ausgehörte Klang-Natur-Beschwörung von Sonia Turchetta, Mario Caroli und Christian Dierstein mit höchster Sensibilität dargestellt. In den beiden letzten der neun Konzerte kontrastierte das „ensemble recherche“ im ersten kürzere Stücke von Sciarrino mit Werken von Isabel Mundry (Dufay-Bearbeitungen) und Beat Furrer („Aria“ für Sopran und sechs Instrumente, mit Petra Hoffmann als Sängerin). Am Schlussabend beeindruckte der Pianist Nicolas Hodges durch seine Souveränität, mit der er die Vertracktheiten von einigen  der Notturni Sciarrinos scheinbar mühelos und ganz locker bewältigte. Da hielt man wieder einmal den Atem an. Otto Katzameier sang danach Sciarrinos „Quaderno di strada – 12 canti e un proverbio“ für Bariton und Ensemble. Seine reichen Erfahrungen mit dem Vokalstil des Komponistensicherten den „canti“ eine plastische, ausdrucksreiche Wiedergabe, vom Klangforum Wien unter Simone Young hätte man sich etwas mehr mitgestaltende Energie gewünscht. Sichere „Begleitung“ allein reicht bei diesem Werk nicht ganz aus.

Fazit: Der „Kontinent Sciarrino“ bildete im Gesamtbild der Salzburger Festspiele ein geheimes Kraftzentrum. Die „Luci mie traditrici“-Aufführung kann den Ruhm der eindringlichsten und geschlossensten Opernaufführung der diesjährigen Festspiele für sich beanspruchen. Im nächsten Sommer heißt der „Kontinent“ Edgar Varèse.

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