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Einladung zum inneren Hören

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Relative Solmisation in der Chorerziehung
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Die Geschichte der europäischen Musikerziehung ist in besonderer Weise mit einem grundlegenden Problem und in gleicher Weise mit einem genialen Lösungsansatz verbunden. Als Guido von Arezzo vor gut 1.000 Jahren die Grundlagen der heutigen Notenschrift schuf, wurde aus einer zuvor schriftlosen Musik eine notierte. Chorknaben mussten bis dahin im Laufe ihrer Ausbildung rund 1.000 Choräle auswendig lernen. Dies machte eine Ausbildung nicht nur sehr langwierig, sondern führte in der alltäglichen Praxis auch zu Fehlern.1 Während aber eine schriftlose Weitergabe letztlich auf Imitation beruht und damit auf der Fähigkeit, Melodien im Geiste zu konservieren und abzurufen, bedarf das Lesen und Verstehen von Notenschrift der Fähigkeit, hinter den Symbolen einen Sinn zu entdecken. Die Zeichen müssen für eine konkrete Klangvorstellung stehen. Eine der ungeheuren Leistungen von Guido und seinen Schülern besteht nun darin, dass sie für dieses Problem eine Methode erschufen: die Solmisation.2


Über Jahrhunderte bis in unsere Zeit blieb der Zusammenhalt aus Notenschrift und Solmisation als ein System erhalten. Während mit Notenschrift und Tonbuchstaben einzelne Töne bezeichnet werden, ermöglicht die Solmisation, singend den Zusammenhang der Töne zueinander zu erfahren und zu lernen. Erst im 18. Jahrhundert hat sich dieser Zusammenhang insbesondere in den deutschsprachigen Ländern gelockert. Vokalmusik spielte gegenüber der Instrumentalmusik eine immer kleinere Rolle. Für Instrumentalisten aber stellte und stellt das Solmisieren einen zwar sinnvollen aber nicht zwingenden Weg dar. Töne können auch direkt auf dem jeweiligen Instrument gespielt werden, ohne diese zuvor zu solmisieren.3

Auch wenn die Bezeichnung „Sol-misation“ sich im engeren Sinne auf die Guidonischen Silben „ut re mi fa sol la“ bezieht, können im weiteren Sinn alle Methoden dazu gerechnet werden, die Tonreihen bestimmten Tonsilben zuzuordnen.4 Auch Eitz’ Tonwortmethode, Münnichs Jale oder sogar die Verwendung von Ziffern können daher als Solmisationsmethoden gelten. Die einzelnen Silbenreihen mögen sängerisch verschiedene Qualitäten besitzen, zeichentheoretisch und damit auch methodisch ist es aber letztlich nicht entscheidend, welche Silben man verwendet.5 Sie stehen immer für eine Klangvorstellung beziehungsweise den zugrundeliegenden melodischen Kontext. Einzig wichtig ist es, dass sich beim Unterrichten einzelner Schüler oder Gruppen die verwendeten Silben nach Möglichkeit nicht ändern.

Alle Solmisationsmethoden basieren auf demselben Grundgedanken. Dem Textsingen wird zu Übungszwecken ein Singen auf Silben vorgeschaltet. Während aber in der sogenannten absoluten Solmisation die Silben für „absolute“ Tonhöhen stehen (wobei beim Singen Vorzeichen vernachlässigt werden), zeichnen in der relativen Solmisation die Silben Intervallproportionen nach. Nicht gleiche Tonhöhen, sondern gleiche Intervalle werden durch gleiche Silben abgebildet. Die Silben sind also so etwas wie lineare Funktionsbeschreibungen. So steht die Silbe „do“ für den Grundton einer diatonischen Skala, „re“ für die Sekunde, „mi“ für die Terz und so fort.

Methodisch handelt es sich damit um eine Form der Gehörbildung. Schüler erfahren und üben systematisch den Zusammenhang einzelner Töne und erwerben dadurch ein inneres Gehör. Nicht das Kennen der Silbennamen, sondern das der zugrundeliegenden Intervallproportionen ist dabei entscheidend und dies natürlich nicht als theoretisches Konstrukt sondern als praktische Fähigkeit. Ausschlaggebend ist, dass die einzelne Silben beziehungsweise die damit einhergehenden Tonverbindungen allmählich eingeführt werden, systematische Sprünge vermieden werden. Bis ein Chor die Silben der diatonischen Tonleiter beherrscht, können mitunter mehrere Jahre vergehen. Für die Praxis erfordert dies, dass für die jeweilige Lehrsystematik auf allen Stufen musikalisch sinnvolle und möglichst hochwertige Übungsliteratur zur Verfügung steht. In vielen Solmisationsmethoden wird daher von der Rufterz „so-mi“ ausgegangen, die über „la“, „re“ und „do“ zur pentatonischen Skala ausgebaut wird.

Selbst für die unvollständige pentatonische Skala lassen sich entsprechende Lieder finden. Anschließend müssen die Töne „ti“ (für die Dominante) und „fa“ (für die Subdominante) ergänzt werden. Beschränkt man sich mehr auf die deutschsprachigen Volkslieder, kann auch eine Lehrsystematik ausgehend von den Tönen des Tonika-Dreiklangs „do-mi-so“, der anschließend durch die Töne der Dominante „re“ und „ti“ und schließlich der der Subdominante „fa“ und „la“ ergänzt wird, sinnvoll sein. Je nach Niveau des Chores und der Frage, wie langfristig die Arbeit angelegt ist, folgen Modulationen, Kirchentonarten und Alterationen. Anregungen für mögliche Übungsstücke findet man in der Chor-Schule von Kodàly, neueren Solmisationshandbüchern (etwa jenem von Malte Heygster7) und vor allem in den alten Tonika-Do-Materialien.8 Diese wurden leider nie neu aufgelegt. In größeren Bibliotheken sind diese Materialien aber bis heute verzeichnet. Einfachere Übungen lassen sich aber auch gut selbst komponieren oder (wenn man diese mit Handzeichen oder an einer Silbentafel anzeigt) auch leicht improvisieren.9

Anders als in anderen Bereichen der Musikpädagogik, etwa der Instrumentalpädagogik, der Konzertpädagogik oder der Schulmusik, stellt das Singen und Solmisieren in der Chorerziehung einen sehr natürlichen Weg dar. Ungeachtet dessen stellt sich auch für Chorleiter die Frage, wie das Solmisieren in eine Probe beziehungsweise den Unterricht integriert werden kann. Grundsätzlich bieten sich zwei Möglichkeiten an. Die erste und zumindest theoretisch bessere Möglichkeit besteht darin, dass die gesamte Arbeit auf Solmisation aufbaut. Alle Lieder werden solmisierend eingeübt. Dies setzt voraus, dass das gesamt Repertoire nicht nur sängerisch sondern auch hinsichtlich der inneren Tonvorstellung der jeweils erreichten Stufe entspricht. Anfänglich müsste man sich also auf einfache Zwei- und Dreitonlieder beschränken. Der Chor würde in diesem Fall wirklich nur das singen, was sich die Mitglieder auch innerlich vorstellen können. In der Praxis dürfte sich dies allerdings motivational als schwierig erweisen. Gerade für die Anfangszeit stehen nicht genügend interessante Stücke zur Verfügung. Sinnvoller ist es daher, Solmisationsübungen nur als einen Baustein im Unterricht zu betrachten. In jeder Probe bzw. jedem Unterricht werden fünf bis zehn Minuten für entsprechende Übungen genutzt, um langfristig die musikalische Lesefähigkeit oder die innere Tonvorstellung zu verbessern.

Für die Chorarbeit wurden (insbesondere in der englischen Tonic-Solfa-Methode) eine Fülle zusätzlicher „Übungsmittel“ ersonnen, deren Prinzip beispielhaft an den bekannten, von John Curwen entwickelten Handzeichen erläutert sei. Die Idee ist einfach: Jedem Ton beziehungsweise jeder Silbe wird ein Handzeichen zugeordnet. Durch den häufigen Gebrauch verschmelzen Tonsilben, Handzeichen und Tonvorstellungen miteinander und stehen wechselseitig füreinander. Die systematische Verwendung von Handzeichen führt schließlich dazu, dass sie spontan eine musikalische Vorstellung auslösen. Die Handzeichen charakterisieren, so Alfred Stier 1926, „dem Auge die – durch das Ohr gewonnene – Vorstellung des Eigenklangs eines Tones innerhalb der Tonfamilie [...] seine Bedeutung (Funktion) in der Tonalität, seine Stellung in seinem Tongebiet.“10

Tatsächlich besitzen die Handzeichen eine plausible Anschaulichkeit, in der Funktionseigenschaften visualisiert werden. So steht zum Beispiel der emporzeigende Zeigefinger für das Aufwärtsstreben des Leittons „ti“ oder die geschlossenen Hand für die Ruhe und Festigkeit des Grundtons „do“. Solche vermeintlichen Ähnlichkeiten sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mit den Handzeichen veranschaulichten Vorstellungen selbst in den kleinsten Volksliedmelodien so nur selten vorkommen. „Ti“ ist nicht immer Leitton, sondern bisweilen auch Durchgangsnote, so nicht immer Paukenbass, der sich sofort im Grundton „do“ auflösen möchte, sondern manchmal ein äußerst stabiler Melodieton und so weiter. Solche „Urfunktionen“ einzelner Töne und damit die gewählte Form der Handzeichen finden sich innerhalb eines musikalischen Kontextes nur in kadenziellen Wendungen wieder. Praktisch (und auch zeichentheoretisch) stellt dies aber kein Problem dar, da für den Gebrauch der Handzeichen nicht deren abbildender Charakter, sondern lediglich die mit ihnen assoziierten Vorstellungen entscheidend ist.

Insbesondere beim Einführen der Handzeichen und neuer Silben unterstützt die Anschaulichkeit der Handzeichen den Lernprozess. Kindern hilft es sehr, Melodien kinästhetisch nachzuvollziehen. Das Auf und Ab einer Melodie in der Luft nachzuzeichnen und konkret durch eine Handbewegung zu symbolisieren, visualisiert einen Denkprozess und kann diesen unterstützen. Der Lernende erkennt und benennt: eine Grundvoraussetzung, in Musik zu denken.11 In der oben stehenden Abbildung finden sich die Handzeichen in der Form, wie sie in der Kodály-Methode üblich sind.12

Wie lassen sich die Handzeichen im Unterricht verwenden? Hier einige Anregungen:13

  • Beim Einführen eines neuen Tons zur Charakterisierung und als Memorierhilfe.
  • Als Vomblattsingübung – improvisierte Motive und Übungen werden von der Hand des Chorleiters abgesungen.
  • Zum Einüben neuer Lieder und zum Üben schwieriger Stellen.
  • Zum Wiederholen bereits bekannter Lieder; beim Singen werden die Töne durch die Handzeichen bewusst mitvollzogen.
  • Zum Auswendiglernen bereits bekannter Lieder, die Handzeichen dienen dabei sowohl als Stütze als auch als Zeichen wirklich bewussten Singens.
  • Motive werden gegeben und stumm gehört, innerlich vorgestellt und erst anschließend laut gesungen.
  • Ein Chor summt nach Handzeichen, ein einzelner steht abgewandt und zeigt das Gehörte wiederum mit Handzeichen.
  • Zur Einführung in das zwei- und dreistimmige Singen. Der Lehrer zeigt mit der linken und rechten Hand jeweils eine eigenständige Stimme und singt gegebenfalls eine dritte Stimme dazu.
  • Zur Einführung in die Modulation. Der Ton, an dem die Modulation stattfindet, wird sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand angezeigt. Die rechte Hand steht dabei für die alte Tonart, die linke für die neue. Anschließend wird mit der linken Hand fortgefahren.

Relative Solmistaion ist keine Methode, die einmal verstanden, sich beim Unterrichten mühelos einsetzen lässt. Sie erfordert sowohl von den Chormitgliedern als auch vom Leiter immer wieder eine intensive Auseinandersetzung, eigenes Üben und Lernen. Auch ist relative Solmisation kein „Allheilmittel“, nicht für jeden Chor und nicht für jeden Musiklernenden ist es zwangsläufig der geeignete Weg. Und doch lohnt der Einsatz relativer Solmisation in vielen Fällen. Auf effektive und systematische Weise wird das innere Hören geschult, eine Fähigkeit ohne die Musizieren undenkbar ist und die leider viel zu oft hinter geistlosem Imitieren zurücksteht.

Anmerkungen

1    Smits van Waesberghe, Joseph (1969): Musikerziehung (= Musikgeschichte in Bildern Bd. III: Musik des Mittelalters und der Renaissance/Lieferung 3), Leipzig (VEB Deutscher Verlag für Musik).
2    Ruhnke, Martin (1998): Solmisation, in: MGG, 2., neubearbeitete Ausgabe, hg. v. Ludwig Finscher, Sachteil 8, Kassel (Bärenreiter), Bd. 12, S. 1561–1570. Streng genommen waren Notenschrift und Solmisation keine Neuerfindungen, seit der Antike kannte man vergleichbare Ansätze. Die Art und Weise, wie sie bei Guido aufeinander bezogen waren, revolutionierten die abendländische Musik.
3    Losert, Martin (2011): Die didaktische Konzeption der Tonika-Do-Methode. Geschichte – Erklärungen – Methoden, Augsburg (Wißner), S. 58-62.
4    Ruhnke (1998), S. 1561.
5    Losert (2011), S. 36-43.
6    Abbildungen aus: Losert (2011), S. 35, S. 257, S. 261.
7    Grunenberg, Manfred; Heygster, Malte (1998): Handbuch der relativen Solmisation, Mainz (Schott).
8    Siehe z.B. Hundoegger, Agnes (1897): Leitfaden der Tonika-Do-Methode (Tonic Sol-Fa) nebst Übungsbuch für den Schulgebrauch, Hannover (TDV); Hundoegger, Agnes (1927): Alte, altmodige und neuere ein- und zweistimmige Lieder als Ergänzungsheft zum Tonika-Do-Übungsbuch (III.-V. Stufe), Hannover (TDV).
9    Losert (2011), S. 189-214.
10 Stier, Alfred (1926): Zur Systematik der Tonika-Do-Lehre. Die Uebungsmittel. I. Handzeichen, in: MTDB 1/1, Berlin (TDV), S. 6-8.
11 vgl. Gordon, Edwin E. (1997): A Music Learning Theory for Newborn and Young Children, Chicago (GIA), S. 19-27.
12 Siehe z.B. Szönyi, Ersébet (1973): Aspekte der Kodály Methode, Budapest/Frankfurt a. M. (Corvina/Diesterweg), S. 21.
13 In Anlehnung an Stier (1926), S. 7.

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