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Mitglieder des Mahler Chamber Orchestra während der öffentlichen Generalprobe. Foto: Siegfried Westphal
Mitglieder des Mahler Chamber Orchestra während der öffentlichen Generalprobe. Foto: Siegfried Westphal
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Einmal herangeführt, droht die Ansichtskarte – Beim Dortmunder Orchester-Kongress ging es auch um Vermittlung

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Dortmund, im Mai. Zwei Tage, drei Panels, zwei Dutzend Referenten, ein Ehrengast. Sicher, vom eigentlichen Kongressgeschehen „Orchester 2020 – Innovative Konzepte für Ausbildung und Praxis“ blieb Pierre Boulez weitgehend verschont. Hauptsache, er war da, ließ sich befragen (vor allem über Paul Klee) und huldigen wie einen König aus Frank­reich. Themen hatte man ja selber.

Los ging’s mit einem Geständnis. Einem unfreiwilligen. Dabei hatte der namhafte Moderator einer namhaften Landesrundfunkanstalt mit seiner Eröffnungsfrage an den Hausherrn eigentlich gar nichts Böses im Sinn, als er vom Leiter des Orches­terzentrums doch nur wissen wollte, ob denn „die Besten“ unter den Studierenden hier auch versammelt sind? Gotthard Popp musste kurz schlucken, um dann, ganz ehrliche Haut, mit der Wahrheit herauszurücken. Nein, leider nicht.

Im Augenblick war klar: Hier ist ein Thema. Eines, das niemand bestellt, das sich vielmehr selber angemeldet hat. Das einfach so Platz genommen hat zwischen den blumendekorierten Tischchen auf dem Podium des Dortmunder Orchester­-Kongresses. Beim Probespielen, von dem im Folgenden viel die Rede war, wäre solcherart verpatzter Einstieg das Aus. Hier ging’s munter weiter. Gottlob hatte man einen blitzgescheiten Moderator engagiert, der den Hitzegrad dieser Kartoffel instinktiv richtig einzuschätzen wusste und dieselbe – mit spürbarer Erleichterung seines Gesprächs­partners – fallen ließ. Überleitung zu „Panel I“: „Orches­terausbildung – Vorstellung von europäischen Ausbildungsmodellen“.

Diejenigen, die sie vorstellen sollten, warteten schon, erklommen der Reihe nach das Podium, um sich aus ihrem Metier befragen zu lassen. Wie das ist mit Aufgaben und Zielen, Motiva­tionen, Hindernissen, Erfahrungen? Binnen Stundenfrist war man im Auditorium schlauer als vorher. Tatsächlich eine schöne Idee, nicht auf Ermüdungs­vorträge zu setzen (zumindest nicht gleich), sondern unterhaltsam und kurz zur Sache sprechen zu lassen. Aufgeboten wurde ein jovialer Bras­ser namens John Miller, der fürs ­National Youth Orchestra of Great Britain respektive fürs European Union Youth Orches­tra sprach, ferner ein Prophet des „intonatorischen Hörens“, der als Henrik Wiese im Hauptberuf quirliger Soloflötist beim Sinfonieorches­ter des Bayeri­schen Rundfunks ist. Dazu zwei kompetente Damen: Tanja Ratzke von der Ensemble-Akademie Freiburg, der anzumerken war, dass die Verbindung von Alter und Neuer Musik, von ensemble recherche und Freiburger Barockorchester (gemeinsam sind Fördergelder leichter zu akquirieren!) beglückende Zukunftsperspektiven öffnet. Schließlich Juliane Wandel, deren Statements im Saal mit besonders gespitzen Ohren verfolgt wurden, war sie doch für die ehrwürdige Orchesteraka­demie der Berliner Philharmoniker zugegen. Und dann, als die Runde nach schöpferischer Pause in ein munteres Diskutieren eintrat, sah man die Dortmunder Orchester-Kongress-Welt – vom einleitenden Fehlstart abgesehen – ­eigentlich auf recht gutem Wege.

Auch Gotthard Popp ließ sich nicht mehr beirren und fand zurück ins Spiel. Zunächst (wir sind in Dortmund) über den Kampf: Die heikle Psychologie des Vorspiels bei Bewerbungen um freie Orchesterstellen – eine Domäne des Orchesterzentrums! Die jüngste, vom Moderator als „Brandpapier“ bewertete Alarmmeldung des Deutschen Bühnenvereins, die Orchesterausbildung betreffend – gemach, gemach! Dazu gesellte sich Popp’scher (Spiel)Witz, vorgetragen, zur allgemeinen Erheiterung des Saals, mit schönstem Dresdner Akzent: Ein langjähriges Orchestermitglied wird von seinen Kollegen wegen Unfähigkeit vor den Kadi gebracht. Der Richter weist die Klage ab. Glaubhaft habe der Beschuldigte darlegen können, dass er nicht erst jüngst unfähig geworden, sondern schon immer unfähig gewesen sei. –

Was uns das lehrt?

Viel! befand man übereinstimmend in „Panel I“. Begründung: Der Beste ist noch lang nicht der Beste, wenn er nicht derjenige ist, der „zu uns passt“. Ein Widerspruch zwischen solistischer Orchestermusiker-Ausbildung und ­Orchestermusiker-Praxis? Geschenkt! Bitte nicht aufregen, meinte Henrik Wiese, wenn vermeintlich „chancenlose“ Bewerber den Zuschlag erhalten und „bessere“, virtuosere Aspiranten das Nachsehen haben. „So was“ müsse man gegebenenfalls schon in Runde Eins „beenden“. Was aber doch nicht bedeuten könne, warf Popp ein, dass das solistische Ausbilden gänzlich einzustellen sei! Nein, das zwar nicht, andererseits, gab Wandel zu Bedenken, komme es nun einmal darauf an, dass der Neue sich dem bestehenden Orches­terklang einfügt. Immerhin sei es ja die Unzufriedenheit über den Nachwuchs gewesen, die Karajan und seine Philharmoniker seinerzeit veranlasst hätten, ihr noch ziemlich solitär dastehendes Akademie­modell aus der Taufe zu heben. Wann das war? Das war, genüsslich formte Wandel die Jahreszahl, neunzehnhundertzweiundsiebzig. Ehrfürchtiges Schweigen im Saal. Die Zeitzeugen nickten versonnen, die Youngster fingen an, zu rechnen.

Und heute reden sie mit

Benedikt Stampa zum Beispiel. Am Intendanten des Konzerthauses Dortmund war es, den Startschuss zu „Panel II“ zu geben: „Orchesterlandschaft – Aktuelle Situation der Orches­ter und Ausblick“. Ein klares Heimspiel für Stampa, der denn auch loskokettierte, dass es eine Freude war. Immerzu würde er mit BVB-Meistertrainer Klopp verglichen. Eine Vorlage, die der Moderator leichtfertig aufgriff, sodass es unvermeidlich zum Doppelpass kommen musste. Warum diese Parallele? Wegen des „vollen Einsatzes“, den er, Benedikt Klopp-Stampa, auch von seinen Mannen verlange! In dieser Manier dribbelte man sich durchs Thema. Stampa betonte, dass „Relevanz“ für sein Haus wichtig sei. Schön! Aber was ist mit Education? Gilt für die ganze Familie! Auch der „Silbersee“ (gemeint war die „Generation 60plus“) muss dazulernen! Vielleicht, ergänzte Anselm Rose, brauchen wir Education bald nicht mehr. Ist ja doch, so der Intendant der Dres­dner Philharmoniker, irgendwo auch ein Zeitgeist-Phänomen, was Andreas Schmidt für das „Modell Mahler Chamber Orchestra“ noch nicht ganz so locker sehen wollte. Education gehöre fürs MCO genauso dazu wie das Probespiel und die Musikvermittlung. Ja, räumte Rose ein, Vermittlung, das ist doch das „Thema der Zukunft“! Die Frage sei eben nur, wie es gelingt, dass all die „musikaffinen Menschen ihre Schritte ins Konzerthaus lenken“? In Dresden jedenfalls gäbe es ein „riesiges Potential“. Und woran es denn hapere? Immer noch, so Stampa, hätten wir mit der alten Schwellenangst zu tun! Was man bräuchte, sekundierte Rose, und was Amerika im Übrigen schon habe, seien (er meinte es ernst) Benimmregeln. Dann nämlich würden die Leute schon kommen, wenn sie denn nur wüssten, wo sie wann welche Beine nicht aufs Gestühl des Vordermanns platzieren sollen... Kurz, die Modulation gelungen, der Kongress angekommen – bei sich selbst. Von nun an durfte diskutiert werden, worüber Intendanten und Manager sowieso immer reden.

„Audience development“

Wie, bitte schön, stellt man das an, die „Konzerthausgänger der Zukunft“ zu generieren? Wie „klassikferne Schichten“ an die Konzertliteratur „heranführen“? Der Kongress hatte verstanden: Musikvermittlung als „logistische“ Aufgabe. Auch die Wortmeldungen einer Praktikerin und einer mit dem Internet gehenden Rundfunkjourna­listin kadenzierten in dieser Weise. Auch wenn Annelie Haenisch-Göller, stellvertretende Solo-Bratischistin der Duisburger Philharmoniker, gehöriges Problembewusst­sein an den Tag legte, von einer verbreiteten Verdrängungspraxis unter Orchestermusikern zu berichten wusste („Es geht uns doch noch gut!“) und weiteres Engagement der Kollegen einforderte, und auch wenn SWR-Musikredakteurin Kerstin Unseld eine Lanze für das „Web 2.0“ einerseits, für kreative „Blogger-Arbeit“ andererseits brach – am Ende lief es darauf hinaus: Musikver­mittlung ist dann erfolgreich, wenn viele neue, bisher musikferne Menschen an die Musik „herangeführt“ werden, also Klassik-Abos zeichnen, die Konzerthäuser füllen, mit oder ohne Rose’sche Benimmregeln. Gestritten wurde über das Wie. Braucht man festinstallierte Pädagogen oder lähmt dies die Eigeninitiative der Musiker?

Geschmeidig jedenfalls von dort der Übergang zur „Next generation – Junge Initiativen in Orchestern/Musikvermittlung“. Besetzt war „Panel III“ praktischerweise gleich mit Studierenden, respektive Absolventinnen des „Instituts für Musikvermittlung und Musikmanagement“ der Hochschule für Musik Detmold, des zweiten Kongress-Mitveranstalters. Jetzt durfte man staunen. Ja, Vermittlung, das ist doch ein wahrer Markt der Möglichkeiten, womit sich problemlos ganze Messen bestücken lassen! In diesem Fall war es an Janina Schaefer, die Früchte des Detmolder „Masterstudien­gangs Musikvermittlung/Musikmanagement“ anzukündigen. Vor der Pause sechs „Best-Practice-Beispiele junger Musikvermittlungs­projekte in Orchestern“. Nach der Pause zündete Ingrid Allwardt („Projekt Junge ­Ohren“) ganz allein ein Schnell­feuerwerk an Musikvermittlungs-Glanzlichtern aus der deutschsprachigen „Projektlandschaft“.

Freilich gab gleich ihr erstes Beispiel zu denken. Allwardts Zuspieler katapultierte die zusehends im Kokon des Musikvermittlungs-Fachchinesisch versponnene Kongresswelt an den Ursprung und Grund ihres Tun und Treibens: Camerata Schweiz mit den Schlusstakten des Kopfsatzs aus Beet­hovens Fünfter. Auch wenn es nur ein „Schnipsel“ (Allwardt) war aus dem Off, für einen Moment hörte es sich so an, als ob die Saaldecke des Orchesterzentrums aufgerissen sei. Dann wieder Vermittlungs-Business as ­usual. Auftritt (noch immer im Zuspieler) eines Komiker-Duos, das aus der Tatsache, dass der gehörte Schluss noch nicht der wahre Schluss ist, gute Comedy destillierte. Ende des Zuspielers. Was wir jetzt gehört haben? Nun, die Fünfte, wäre man versucht, zu sagen, ist Stichwortgeber, Musikvermittlung, Publikums­bespaßung, und auch die Schweiz praktiziert „gelungenes Heranführen“ an die „Konzertliteratur“.

Doch, mal ehrlich, war etwas anderes versprochen? Auch die Reise­gruppe, die an den Fuß, sagen wir: des Matterhorns „herangeführt“ worden ist, besinnt sich instinktiv auf sich und nicht auf die Majestät des Berges. Um die sich vom Leibe zu halten, hat sie das Foto, das sie knipst und die Ansichtskarte, die sie verschickt. – Nichts Neues? Muss man damit leben? Wahrscheinlich. Wie mit dem Umstand, dass auf Orchester-Musikvermittlungs-Kongressen von allem und jedem, nur vom Kunstwerk keine Rede mehr ist.

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