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Kerze machen, statt Kerze anzünden: In Darmstadt wurde Cage zum Turnvater Jahn. Foto: Achim Heidenreich
Kerze machen, statt Kerze anzünden: In Darmstadt wurde Cage zum Turnvater Jahn. Foto: Achim Heidenreich
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Es ist nicht alles Sound, was klingt

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Aber immer noch Musik: Darmstädter Ferienkurse für alles Mögliche
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Großer Bahnhof für John Cage: „If you celebrate it, it’s art, if not, it isn’t“, prangt es in unübersehbaren Lettern über der Darmstädter Zugstation, als ob der Kini käme oder die Fußballweltmeister von 1954 auf ihrer Triumph­heimfahrt durch die Lande rollten. Letzteres hatte ja das Netzwerk Neue Musik bereits vorexerziert. Es fehlte nur noch der imaginäre Posaunenchor am Gleis mit Cages Tacet-Komposition „4:33“ und die Erstarrung der Cage-Bewegung zur sinnentleerten Konvention, seit Ernst Bloch Indikator von Spießigkeit, wäre perfekt gewesen.

Wunderbares bekam der Reisende dann im Aufzug durch ein Akkordeon geboten, dass sich mit den Gegengewichten dehnte oder zusammenzog: Einatmen, ausatmen, wie in der Schwangerschaftsgymnastik – herrliche Begleitmusik für junge Liebende zur Rushhour. Dass die Welt Klang sei (n muss), könnte sich jedoch eines schönen Tages einmal als sehr großer Irrtum herausstellen und dann tatsächlich den vom verstorbenen Cage-Förderer und Musikphilosophen Heinz Klaus Metzger geforderten schalldichten Raum als Utopie am Horizont heraufdämmern lassen, um Webern, dem zuerst „unbewegt Bewegenden“ (Thomas von Aquin), endlich einmal adäquat hören zu können, oder?

Also: Roll over, John-Boy? Welche Wunder hätte Cage denn frei nach Kagels berühmten Beethovenfilm „Ludwig van“ vollbracht, wenn der Anti-Schönbergschüler, Erfindersohn, Menschenklangfarbenfischer, Fluxus-Dekomponist und monströs stille Intonationsterminator der Neuen Musik aus den Staaten, dem nichts, aber dann direkt alles heilig war, auferstanden wäre und noch einmal den Ort aufgesucht hätte, an dem er jetzt flächendeckend und kirchentagsähnlich im Darmstadtschiff, dass sich Fangemeinde nennt, so überaus antifeierlich zelebriert wurde.

Einatmen

Cage selbst war aber nur zweimal bei den Ferienkursen gewesen, 1958 auf Empfehlung von Bruno Maderna, der in Darmstadt neben Friedrich von Flotow begraben liegt, und dann erst wieder 1990 auf Einladung vom äußerst verdienstvollen, respektablen und vornehmen Friedrich Hommel, dem im letzten Jahr verstorbenen Vorvorgänge des jetzigen Ferienkursleiters Thomas Schäfer. Beim ersten Mal wurde Cage mit Kraftausdrücken zum Teufel geschickt, beim zweiten Mal sang er selbst in der verdunkelten Sporthalle am Böllenfalltor seine „Empty Words“ wie ein Medium, wurde gewissermaßen von seinen Anhängern auf Händen getragen und sammelte, ebenso wie schon 1958, im nahen Odenwald Pilze gemeinsam mit Wilhelm Schlüter, dem langjährigen Organisator der Ferienkurse und so etwas wie ein Faktotum der Neuen Musik mit Elefantengedächtnis, dem viele in der Szene Vieles zu verdanken haben. Daher der Vorschlag: Wilhelm Schlüter for Bundesverdienstkreuz!

Die gegenüber dem Bahnhof installierte „Cage Stage“ – eine Holzbox mit Flügel und Gymnastikmatten, hätte sich für Cage als Ort der Pilzbestimmung und sogar Speisung des Publikums mit vielleicht fünf großen Steinpilzen angeboten. Oder Cage hätte dem Publikum das richtige Pilzsammeln und –zubereiten selbst gelehrt und wäre anschließend über einen nahen Weiher geschritten, jedoch nicht bevor er noch Wasser zu Wein von der Bergstraße verwandelt hätte. So jedenfalls war die Anmutung in Darmstadt. Das grenzte an Kunstgewerbe: Trubel, Jubel, Heiterkeit, Friede, Freude, Eierkuchen und so viel Cage war nie. Nein, Cage ist nicht die Lachnummer der Klassischen Musik, mit dem einem konservativen Publikum vorgegaukelt wird, es habe Teil an zeitgenössischer Musik – wie es einst der Kritiker Paul Bekker über Richard Strauß postulierte – und dürfe sich dabei auf die Schenkel klopfen. „Beifall von der falschen Seite“, hätte Metzger so etwas genannt.

Ausatmen

Wo aber lag der Hase im Pfeffer bei den 46. Ferienkursen für Neue Musik? Genau in dieser Nennung. Die Ziffer 46 ist kein Pappenstiel. Da ist Einiges an Archivmaterial zusammen gekommen, Tape, Print, Video. Als erste Amtshandlung setzte sich der neue Kursleiter Thomas Schäfer an dieses Thema und vereinbarte große Digitalisierungsprojekte, die sehr schön konstant und ergebnisorientiert einen digitalen Stein auf den anderen setzen, so dass wieder Musik für ein geschichtlich schwer zu überschätzendes Haus daraus wird. Außerdem mischt das veranstaltende Internationale Musikinstitut auch zwischen den Kursjahren emsig im Musikleben des Rhein-Main-Gebiets mit – das wurde auch Zeit!

Die Kurse versuchen also verdient den Spagat zwischen der Verwaltung des selbst generierten Kulturerbes der Neuen Musik, da geht kein Weg d’ran vorbei, und der stetigen – immerhin noch – Runderneuerung des musikalischen Materials in den zahlreichen Konzerten, Interpretationskursen, Symposien, Gesprächsrunden und Kompositionsklassen. Fast vierhundert Kursteilnehmer sorgen für quirlige Lebendigkeit und volle Säle. Man trifft sich, man sieht sich, man ist international, man geht zum Arditti-Quartett genauso beflissen wie zum Improvisationskonzert und DJ-Event oder auf Wanderschaft durch Johannes S. Sistermanns Waldrandprojekt im Forstrevier am Böllenfalltor. Musik für einen Wald wollte schon Stockhausen machen und wandelte einst mit Schlüter und einem Förster durch den Odenwald. Die Lichtung ward rasch gefunden. Der Förster verbot dann aber das Anbringen von Boxen an den Bäumen.

Das Parfum

Mit einem fulminanten instrumentalen, elektroakustischen und musiktheatralischen Paukenschlag gingen dann nach zwei Wochen Sommeruniversität im Festivalformat die 46. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadts Kongress- und Veranstaltungszentrum Darmstadtium künstlerisch überaus beeindruckend zu Ende. Fazit: Nicht das musikalische Material ist verbraucht, sondern die Gesellschaft, in der es sich befindet: Karlheinz Stockhausen ist Tod, John Cage, Mauricio Kagel und Iannis Xenakis auch! Die späteren Wegbereiter Wolfgang Rihm, Matthias Spahlinger und Brian Ferneyhough waren heuer in Darmstadt putzmunter, Lucas Fels eine Art spiritus rector und die ihnen nachfolgende junge Generation geht jetzt historisch ziemlich unverkrampft mit den Ikonen ihres Metiers an den Klang heran, auf dass er einfach einmal gespielt werde. Beeindruckend, wie Fels und Spahlinger über dessen gerade für Münchens musica viva entstehendes summenrhythmisches Cello-Konzert miteinander sprachen, wie das sehr eingebundene ensemble recherche Rihms­ „Blick auf Kolchis“ zweimal intonatorisch absolut exemplarisch aufführte, dass Wolfgang Rihm seine große Freude daran hatte. Die Jungen, für die Adorno wie eine Parfumname klingt, durften die Granden öffentlich befragen, beispielsweise mit welchem Risiko Ferneyhough denn jetzt komponieren würde oder warum er seit dreißig Jahren nicht seinen Stil geändert habe. Zu Rihms „Kolchis“ wurde als Vorbereitung gegoogelt und dabei herausgefunden, dass Kolchis eine Gegend in Georgien sei, die einmal Griechenland war und warum sich Rihm denn mit dem alten Griechenland beschäftigen würde, man müsste sich doch eher um die aktuellen Probleme Griechenlands kümmern. Sprich: Man hatte sich auf die „Kolchis“-Komposition von Rihm gar nicht vorbereitet, die bezieht sich nämlich auf eine Skulptur von Kurt Kocherscheit. Rihm nahm’s gelassen. In diesem entlarvenden Moment waren die Ferienkurse eine Klippschule der Neuen Musik.

Abschreiber

Frechheit siegte dennoch: Der diesjährige Kranichsteiner Musikpreisträger für Komposition, Johannes Kreidler, Jahrgang 1980, hat natürlich – noch – das Recht der Jugend keck zu sagen: „Wer für Geige schreibt, schreibt ab!“ Das stimmt zwar genauso wie die Feststellung, wir wären Papst, mischt jedoch die Szene vom Internetende her gehörig auf, sorgt für Diskurs und ist irgendwie auch Pop. Der hat der Neuen Musik gerade noch gefehlt! Jetzt aber steht Preisträger Kreidler in genau der Rezeption und Tradition, die er kritisiert: Schöne Grüße von Gernhardts schärfsten Elchkritikern, sie waren es selbst. Diese Umarmungsgeste war kulturpolitisch gewieft und beugt jede Palastrevolution während der musikalischen Kreuz- und B-Fahrt über das Meer der neuen Töne vor, die es laut Kreidler ja nicht gibt. Dennoch sitzt er nicht auf dem Trockenen, sondern auf der Seenplatte aller vorhandenen Musiken. Das ist sein Material: Hier lieg’ ich und besitz’ – Mach was d’raus!

Die Musiker des belgischen Vorzeigeensembles Ictus, Grenzgänger auch zu Jazz- und Rockmusik, zündelten beim Abschlusskonzert im Darmstadtium gemeinsam mit Dozenten und Kursteilnehmern ihrerseits an den Nabelschnüren der Neuen Musik, die da sind: Serialität, Postserialität, politisches Statement, Komplexität, immer wieder John Cages Werk. Icuts verzwirbelte die Geschichtsfäden in ihrer raumgreifenden Montage schließlich zur flackernden Lunte, dank derer der technizistische Konzertsaal am Ende in die Luft gesprengt werden konnte – „durch Beifall“ (Wolfgang Rihm). Hier setzte sich künstlerisch überzeugend fort, was sich im Studio Interpretation bereits abzeichnete: Mit frappanter Virtuosität und positiver Verspieltheit wurden aktuellere mit bewährteren Werken kombiniert. Matthias Koole brillierte intonationssicher in Ferneyhougs unverstärk­ter „No Time“ gemeinsam mit Kobe van Cauwenberghe auf der akustischen Gitarre, wie auch später auf der Elektrischen während der abschließenden Collage mit Werken von Clinton Mccallum, Alexander Schubert oder Benjamin de La Fuente. Die Ictus-Musiker erzeugten dann mit live-elektronischen Werken von Fausto Romitelli für Querflöte und Computer sowie in Agostino Di Scipio „Modes of Interference“ für Trompete und Feedback-System – großformatige, orchestral aufberstende, ins mechanisch-monströse gesteigerte Musikobsessionen im klangskulpturalen Gewand, dennoch weit von der Installation der Bildenden Kunst entfernt. Das war keine Großmannssucht, sondern Bedrohung des Subjekts, die sich in bewusst allzu klassizistischen Jazz-Rocklinien fortsetzte. Bernd Alois Zimmermanns 1961 in Darmstadt uraufgeführtes „ballet blanc Présence“ für Violine, Violoncello und Klavier betonte mit stromfreien Aphorismen auf Zitatebene treffend diese klanglich „dünne Eisschicht, auf der der Fuß nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht“ (Zimmermann). Kurt Schwitters „Ursonate“ feierte in Jennifer Walshs girlyhaft durchtriebener Diktion fröhliche Urstände. Ihr anschließender vokaler Parforceritt durch die Popmusik traf sich trefflich mit Kreidlers „Gibt’s-Schon-Ästhetik“: Fernando ist ins Yellowe Submarine umgezogen und schläft mit Madonna, so klangen die bravourös intonierten Zungenbrecher jedenfalls. Walsh beerbte damit die große Cathy Berberian, hat es schon längst.

In harter Schnitttechnik wurde mit der gelungenen, kurzweiligen Dramaturgie beispielhaft Musik neu kontextualisiert. Das ist Neue Musik, heute. Technik diente nicht als Selbstzweck, sondern wurde ästhetisch fruchtbar eingesetzt. Autor und Authentizität blieben erkennbar und in der künstlerischen Setzung blieb der Einzelne verantwortlich handelnd im Zeichen der Aufklärung. Das ist die wahre high society in der Neuen Musik, die zur Zeit unter dem Deckmantelbegriff zeitgenössische Musik überwintern muss.

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