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Exegeten der Stille

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Exegeten der StilleCage, Pisaro, Frey, Beuger; Edwin Alexander Buchholz, Akkordeon. Edition Wandelweiser EWR 9601/9602 (2 CD) Silvia Ocougne, Chico Mello: Música Brasileira De(s)composta. EWR 9603 Christian Wolff: Stones; Wandelweiser Komponisten Ensemble. EWR 9604 Alfred Zimmerlin: Klarinettenquintett, Klavierstücke. EWR 9605 Maderna, von Schweinitz, Beuger, Stiegler; Clemens Merkel, Violine. EWR 9606 Cage, Beuger; Jürg Frey, Klarinette. EWR 9607 Wolff, Lucier, Schlothauer, Frey; Jürg Frey, Klarinette, Baßklarinette. EWR 9608 Wie leise darf eine CD sein, wieviel Stillezonen verträgt sie? Manchmal hat man den Eindruck, als suche man dieser Frage mit den sieben ersten von der Berliner Edition Wandelweiser aufgelegten CD-Kassetten nachzugehen. „Wenn Sie diese CD auflegen, werden Sie vielleicht nach einer Weile vergessen, daß sie spielt. Plötzlich hören Sie dann irgendwann, irgendwo ein Steinchen und nach dem ersten ‚Was war denn das?‘ wird es Ihnen auf einmal klar: ‚Ach ja, das ist die CD!‘“ – so wird im Prospekt treffend der Eindruck beschrieben, der beim Stück „Stones“ von Christian Wolff entsteht. Das Wandelweiser Komponisten Ensemble mit Antoine Beuger, Jürg Frey, Chico Mello, Michael Pisaro, Burkhard Schlothauer, Kunsu Shim und Thomas Stiegler hatte mit je etwa zehn bis 20 Steinklangereignissen einen Zeitraum von etwa einer Stunde gefüllt. Das fast Unhörbare ist ihr Metier, an den Rändern zwischen Klang und Ruhe, zwischen Sein und Nichts, zwischen Nicht-Sein und Gerade-Noch-Sein wird geforscht. Und ähnlich der frak-talen Geometrie mit ihren grenzenlosen Verästelungen und ihren immer wieder neu-wundersamen Rand-Figurationen tun sich auch hier ungeahnte Welten auf. Eine genaue Grenze zwischen Stille und Klangereignis nämlich gibt es nicht. Der Übergang ist zerfranst, gerät in Konflikte mit dem subjektiven Hörvermögen. Das bis zu höchster Reizbarkeit gespitzte Ohr erzeugt Welten der Einbildung, irreale Gestalten. Das Überhörte wird vernommen. Dies also ist das Metier einer Gruppe von Komponisten, die sich seit 1992 in der Edition Wandelweiser zusammenfanden. 1996 wagte man den Start einer CD-Reihe, auf der eigene Arbeiten, aber auch Kompositionen etwa von Cage, Lucier, Maderna oder Wolff vorgestellt werden. Verbindend ist die verwandte Ästhetik, die spezifischen Annäherungen an Ton und Geräusch. Zunächst einmal freilich entzieht sich solche Musik, das meiste davon, in landläufigem Sinne der Reproduzierbarkeit. Es ist Musik des Live-Erlebens, wo die Augen das Geschehen verstärken, wo andere Sinne die Anspannung der Nachbarn wahrnehmen. Nur die CD ermöglicht die technische Wiedergabe – und hier schließt sich auf merkwürdige Weise ein Kreis von meditativ verinnerlichter Versenkung zu neuen technischen Erlebnisformen. Schon dieser Aspekt spricht für die CD-Reihe, die ein bedingungslos mutiges Unterfangen darstellt. In der Stille herrscht dann doch wieder eine verblüffende Vielfalt der Annäherung. Sehr dezidiert lauschend verfahren der Holländer Antoine Beuger, der Schweizer Jürg Frey oder auch der US-Amerikaner Michael Pisaro oder - betont unterstrichen und hervorgearbeitet durch die Interpretationen der „Wandelweiser“-Leute – John Cage, Alvin Lucier oder Christan Wolff. Immer entsteht ein eigener Raum, eine individuelle Sicht auf den Zeitverlauf. Der Schweizer Komponist Alfred Zimmerlin hebt hingegen stärker improvisatorische Momente hervor, Klangszenen oder -landschaften wachsen zart pointiert daraus hervor. Und eine CD mit Musik der in Brasilien geborenen Silvia Ocougne und Chico Mello widmet sich der Umdeutung, dem Neu-Hören brasilianischer Volksmusikmodelle. Es ist eine aufregende Reihe, die hier gestartet wurde, konsequent, nicht schon im Vorfeld nach Akzeptanz fragend. Vorgestellt werden musikalische Erfahrungen, denen die Komponisten der Edition Wandelweiser mit all ihrer Intensität nachforschen. Es sind Erfahrungen, die unser Ohr, unser Hören angehen. Das allein schon macht das Unterfangen wichtig. Weiteres Gedeihen ist zu wünschen.

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