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Expeditionen zum modernen Musiktheater

Untertitel
HipHop, Opera buffa, Mitspieloper: fünf Jahre Junge Oper am Stuttgarter Haus
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Während in Berlin Kulturpolitiker, Intendanten und Dirigenten vergeblich über Qualität und Kosten einer Hauptstadtkultur diskutieren und spekulieren, hat Deutschland längst eine heimliche Opernhauptstadt: Unter der Doppelintendanz von Klaus Zehelein und Pamela Rosenberg erlebte die Staatsoper Stuttgart einen Aufschwung, der an ihre große Zeit in den fünfziger Jahren erinnert, wo sie schon einmal als Pilgerstädte von Opernfreunden galt. Zum dritten Mal wählten Kritiker der Zeitschrift „Opernwelt“ das Stuttgarter Haus zur besten Oper des Jahres. Weiter zeichnete die Jury die Stuttgarter „Götterdämmerung“ („Aufführung des Jahres“) inklusive ihres Regisseurs Peter Konwitschny („Regisseur des Jahres“) und der Brünnhilde-Sopranistin („Sängerin des Jahres“) aus. Ebenfalls ehrten die Kritiker den Staatsopernchor Stuttgart („Bester Opernchor des Jahres“).

Wie populär Oper in Stuttgart ist, kann man auch an einem weiteren Projekt von Zehelein festmachen, das jedoch noch nicht so stark ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist: Seit fünf Jahren existiert dort die Junge Oper Stuttgart. Jugend- und Schultheaterprojekte hatten in Stuttgart freilich schon vor Zehelein Tradition, doch dieser baute von Beginn seiner Intendanz im Jahre 1991 diesen Bereich der Jugendarbeit kontinuierlich aus. Es begann mit mehreren großen Projekten in Kooperation mit allgemein bildenden Schulen der Stadt und der Region. 1995 schuf die Opernintendanz aus Mitteln des Förderkreises der Gesellschaft der Freunde der Württembergischen Staatstheater zusätzlich die Stelle eines Musiktheaterpädagogen. In dieser Funktion entwickelte Markus Kosuch das Projekt Erlebnisraum Oper, basierend auf professionellen Produktionen mit jungen Künstlern einerseits und auf der Arbeit mit Schülern aus den Schulen aus Stadt und Umland andererseits. Heute hat die Junge Oper drei feste Mitarbeiter, einen Etat von etwa einer halben Million Mark pro Spielzeit und ist mit seinen anspruchsvollen Low-Budget-Produktionen ein Publikumsrenner.

Die Bilanz der Arbeit seit 1995 kann sich sehen lassen. Fünf Produktionen mit beinahe 100 Vorstellungen wurden realisiert: „Der gestiefelte Kater“ von César A. Cui, die „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann, „Das Kind und die Zauberdinge“ von Maurice Ravel, „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“ von Violeta Dinescu, die Uraufführung der HipHop-Oper „P.A.G.S.“ von Andreas Breitscheid und Manfred Weiß. Im Juni 2000 hatte „The Jumping Frog oder der Held von Calaveras“ von Lukas Foss nach einem Text von Mark Twain Premiere. Während früher ein fester Regisseur fürs Programm zuständig war, sucht heute das Team der Jungen Oper um Markus Kosuch die Stücke aus und legt sie der Intendanz vor. Die engagiert dann die entsprechenden Gastregisseure. Künstlerische Aspekte stehen dabei vor pädagogischen, denn Kosuch legt keinen Wert darauf, Pedagogicals zu machen: „Wo dann am Schluss alle in die Hände klatschen und singen ,Geh nicht bei Rot über die Straße’“. Die meisten Stücke für Kinder, die heute auf dem Markt sind, sind Musicals. Die will die Junge Oper aber bewusst nicht inszenieren. Kosuch: „Ich finde es schade, wenn die Musikgeschichte in der Dur-Moll-Harmonik aufhört“.

Das Besondere an der Jungen Oper Stuttgart ist weniger das Vorhandensein eines Spezialprogramms für Kinder und Jugendliche, sondern die Art wie die Produktionen realisiert werden. Da sind zunächst die Solisten: Junge Künstler, die oft schon im ersten Engagement sind und hier eine weitere echte Chance bekommen sich für die großen Bühnen zu profilieren. Dies trifft auch auf die Instrumentalisten des Kammerorchesters zu. Die musikalische Leitung übernehmen zumeist Kapellmeister der Staatsoper wie Willem M. Wentzel oder Richard Wien. Diese Profis behalten auch bei den turbulentesten Aktionen der „Opern-Eleven“ den Überblick und sorgen für professionelles Niveau. Dann der Opernchor: Dessen Mitglieder werden für jede Produktion neu gecastet. In Betracht kommen hier Schüler aus Musik-Leistungskursen, engagierte Laien, zukünftige Gesangsstudenten. Für das HipHop-Stück „P.A.G.S.“ suchte man sich die Darsteller auch außerschulisch aus der HipHop-Szene.

Damit nicht genug: Für Interessierte aus allen Schularten (die Betonung liegt hier auf alle) bietet die Junge Oper Hospitanzen und Schnupperpraktika. Die gibt es in der Kostümschneiderei, der Maske, in der Technik oder bei der Beleuchtung. Sehr begehrt sind Regieassistenzen. Auch hier müssen sich Interessenten für jede Produktion bewerben. Und nicht zuletzt werden nicht nur Schüler zum klassenweisen Besuch geladen, sondern die Junge Oper bietet unter dem Titel „Erlebnisraum Oper“ ein durchdachtes und individuelles Kooperationskonzept von Oper und Schule an, das von der traditionellen Besichtigung mit doppelstündiger Vor- und Nachbereitung bis zu den anspruchsvollsten fächerübergreifenden Projekten reicht. In den fünf Jahren Junge Oper entstanden so zehn musiktheaterpädgogische Publikationen mit umfangreichen Materialien, die entweder die Oper selbst oder der Klett-Verlag publiziert.

Vielfältige Vernetzungen haben sich nicht nur in der Region entwickelt, wo die Junge Oper an der Staatsoper Stuttgart eng mit Oberschulämtern, Musikhochschulen, Pädagogischen Hochschulen sowie diversen weiteren Institutionen kooperiert. Im November 1997 gründeten die Opernhäuser Covent Garden, Monet und Stuttgart das internationale Netzwerk RESEO, in dem heute 20 Häuser von Barcelona bis Helsinki vertreten sind. (Informationen im Internet: www.reseo.org

Ende Juni hatte „The Jumping Frog oder der Held von Calaveras“ im Kammertheater des Staatstheaters Premiere – eine Komische Oper in zwei Akten von Lukas Foss nach einer Erzählung von Mark Twain. Die skurille Fabel von Twain, bei der es um die absonderliche Wettleidenschaft eines Springfroschbesitzers im Wilden Westen geht, fasste Foss in eine Musik für Kammerorchester ganz im Stil der opera buffa. Auch heute, 33 Jahre nach der deutschen Uraufführung, wirkt seine klassizistische Spielerei nicht anbiedernd oder gefällig sondern frisch und unterhaltsam. Abgesehen von zahlreichen musikalischen Implikationen, die die opera buffa für den Musikunterricht bietet, knüpfen Unterrichtsmaterialien, die Kosuch und seine Mitarbeiter entwickelt haben, an die Biografie von Mark Twain an. Im fächerübergreifenden Unterricht setzen sich die Schüler mit Twains Europareise auseinander und können feststellen, dass Tom Sawyers und Huckleberry Finns große Mississippi-Floßfahrt auf eine Floßfahrt Mark Twains auf dem lieblichen Neckartal zwischen Heilbronn und Heidelberg zurückgeht.

Mehr Infos im Internet unter: www.staatstheater.stuttgart.de

Aufführungstermine:

In der Spielzeit 2000/2001 wird das Werk „Expedition zur Erde“ (siehe unser Szenenfoto) von Bernhard König, einem heute 33-jährigen Kagel-Schüler, aufgeführt. Das Stück, das Elemente des Mitspieltheaters auf intelligente Weise für die Oper umsetzt, wurde vor fünf Jahren in Potsdam uraufgeführt. Die Premiere ist am 12. November; weitere Vorstellungen gibt es bis zum 16. Dezember 2000.

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