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Fesselnde Reise in eine gottlose Welt

Untertitel
Rued Langgaards Oper „Antikrist“ in deutscher Erstaufführung am Staatstheater Mainz
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Er war wohl einer der größten Exzentriker der abendländischen Musikgeschichte: Rued Langgaard, 1893 in Kopenhagen geboren und 1952 als Domorganist in Ribe (Nordschleswig) verstorben, schrieb über 400 Werke für verschiedenste Besetzungen, von denen zu seinen Lebzeiten ein Zehntel publiziert und allenfalls die Hälfte aufgeführt wurde – einige davon in Deutschland. Seine 1930 fertiggestellte Oper „Der Antikrist“ kam erst 1999 in Innsbruck auf die Bühne. 19 Jahre später ist das sperrig-sinnliche Stück als deutsche Erstaufführung in Mainz zu erleben.

„Antikrist, bei Lichte betrachtet, eher ein szenisches Oratorium als eine Oper. Angelehnt an die neutestamentliche Offenbarung des Johannes im Neuen Testament beschreibt das Szenario die vorübergehende Herrschaft des Antichrists vor dem endgültigen Weltgericht, auf die sich im Prolog Luzifer und der Herrgott einvernehmlich verständigen. Der Antichrist, das täuschend ähnliche Gegenbild des zum Erlöser erhöhten Jesus von Nazareth, tritt aber in der in Mainz gespielten Zweitfassung der Oper aus den Jahren 1926 bis 1930 nicht selbst in Person auf, sondern wird nur in seinen Wirkungen sichtbar. Die benennt das vom Komponisten selbst konzipierte Libretto anhand von fünf Szenen. Sie heißen: „Das Unwegsamkeitslicht“, „Die Hoffart“, „Die Hoffnungslosigkeit“, „Die Begierde“ und „Streit aller gegen alle“; ihnen folgt als sechstes und letztes Bild „Die Verdammnis“ mit dem Sturz des Antichristen. Zählt man den Prolog hinzu, ergibt sich eine Zahl von sieben Szenen – analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte. Dem biblischen Abbildungsverbot gemäß wird Gott nur durch eine unsichtbare Sprechstimme hörbar. Singend treten hingegen Luzifer und die folgenden allegorischen Figuren auf: „Die Rätselstimmung“, „Das Echo der Rätselstimmung“, „Der Mund, der große Worte spricht“, „Der Missmut“, „Die große Hure“, „Das Tier in Scharlach“, „Die Lüge“ und „Der Hass“. Diese Allegorien äußern sich in lyrischen Betrachtungen, rätselhaften Dialogen, verstiegenen Beschwörungen und offenem Streit.

Langgaard schrieb das Libretto selbst. Die Sprache ist symbolistisch verschlüsselt oder expressionistisch aufgeladen, oft auch schlagwortartig zugespitzt – wobei diese Schlagworte oft selbst enigmatischen Charakter haben. So wird die Welt wiederholt als „Larmens Kirke-Øde“ (wörtlich: „Lärmes Kirchen-Ödnis“) bezeichnet. Hermann Bäumer beschreibt die wiederkehrende musikalische Chiffre dafür als Kontrastierung eines Dur-und Mollakkordes in scharfer Punktierung, die durch hämmernde Celesta-Schläge mit der Spielanweisung „crudele“ („grausam“) hervorgehoben wird. Angesichts der Herkunft des Instrumentennamens aus dem französischen „celeste“ („himmlisch“) darf man vermuten, dass Langgaard das leere Lärmen der gottlosen Welt sogar in der Kirche selbst gefunden hat. Womöglich verraten auch die ausgedehnten Instrumentalpassagen zwischen den Szenen etwas von der Abneigung des Komponisten gegen hohle Worte. Und anders als man meinen könnte, beinhaltet die von Langgaard beschworene Apokalypse keine aufgepeitschten Volksmassen. Nur eine einzige Zeile hat vor dem letzten Bild der Chor zu singen, und die gilt der Verehrung des „Tieres“, einer Verkörperung des Antichristen. Erst auf dessen Entthronung hin beschließt ein feierlicher Choral das Werk, der die Befreiung mit den Schlüselbegriffen „Hephata“ („Öffne dich“) „Sinn“, „Sonne“, „Lebensfluss“ und „Himmelswonne“ preist.

Der heiklen Aufgabe der szenischen Aufführung dieses ebenso sperrigen wie klangsinnlichen Stücks erweist sich das Mainzer Inszenierungsteam mit Anselm Dalferth (Regie), Ralph Zeger (Bühne), Mareile Krettek (Kostüme) und Elena Garcia Fernandez in erstaunlich souveräner Weise gewachsen. Dem Willen des Komponisten zur Symbolik entspricht der Mut der Regie zur Stilisierung. Farbenfroh und charakteristisch treten die Schlüsselfiguren auf; Chor und Statisten sind mal im Hintergrund, mal folgen sie ihren jeweiligen Leitfiguren wie hypnotisiert in langsamen, aussagekräftigen Bewegungen, die den in die Übertitelung projizierten Text und die stilistisch vielfältige Musik deuten helfen. Fast organisch wirkt der musikalische Ablauf; dort, wo Brüche auftreten, finden sie ihre szenische Korrespondenz. Während das Bühnengeschehen in charakteristischen Bildern mit großer Ruhe und wie vorherbestimmt abläuft, folgt man Langgaards Expedition in die gottlose Welt im Zuschauerraum mit wachsender Spannung und Faszination.

Dabei ist es nicht so, dass Anselm Dalferth auf deutende Elemente verzichtet. Er bringt die Stimme Gottes als Person auf die Bühne. Gott (Ivica Novakovic, weiß gewandet mit schwarz gefärbtem Gesicht ) und Lucifer (Peter Felix Bauer in Schwarz mit weißem Gesicht) erscheinen wie zwei beste Freunde, die zum sportlichen Wettkampf um das Schicksal der Menschheit gegeneinander antreten. Anfangs, bevor das Geschehen eskaliert, erhält sogar jeder der beiden einen eigenen Beobachtungsturm. Das musikalisch stark von Wagners „Parsifal“ beeinflusste Bild der „Rätsel-Stimmung“ erinnert auch szenisch stark an Klingsors Zaubergarten. Alexandra Samouilidou und Saem You verleihen dem trügerischen Idyll Stimmung und Stimme. Doch schon im nächsten Bild kippt die Atmosphäre von der Nostalgie in aggressiven Durchhaltewillen, dessen Parolen einem erstaunlich bekannt vorkommen: „Fortschritt‘ heißt die Losung, ‚Wachstum‘ zeugt das Leben, ‚Unglück‘ schärft den Willen, ‚Kampf‘ bereitet Siege“. Es folgen weitere Schlagworte der Selbstoptimierung, die von heute sein könnten. Ausgestoßen werden sie vom „Mund, der große Worte spricht“. Der ist einer überdimensionalen Glühbirne aufgemalt, die Nadja Stefanoff über ihrem Kopf trägt. Wie sie als personifizierter Fortschritt von den Menschen auf Händen getragen wird, ist in seiner Absurdität das vielleicht stärkste Bild des Abends. Langaard hat dazu eine Fuge geschrieben, wie sie trockener nicht klingen könnte. Das dritte Bild, die Hoffnungslosigkeit mit Geneviève King als beredtem „Missmut“, ist musikalisch getragen von fiebriger Nervosität und expressionistischen Härten.

Mehr als einen Hauch von Fin de Siècle verbreitet das Bild der „großen Hure“, das nach Johann und noch mehr nach Richard Strauss klingt. Vida Mikneviciutes stimmliche Ausstrahlung bleibt auch dann noch mächtig, als sie ihres überdimensionalen farbigen Rockes entkleidet wird und sich auf eine hartnäckige Auseinandersetzung mit der „Lüge“ einlassen muss. Alex­ander Spemann gibt diese Figur, die sogar das „Ave Maria“ ins Feld führt, als moralisierenden alten Mann mit Stock, und der Betrachter staunt noch einmal über das zeitdiagnostische Potential des Stückes. Die Kontroverse zwischen sinnenfroher Libertinage und eifernder religiöser Strenge nämlich ruft den Hass (Michael Mrosek) auf den Plan. Mit den Worten „Gott ist tot“ scheint Lucifer das Spiel zu gewinnen, doch dem bereitet Gottes Stimme ein abruptes Ende. Die instrumentale, barockisierende Pastoralidylle des Prologs wird wiederholt, doch darüber legt sich nun der Chor der Erlösten. Zu dieser rückwärts gewandten Utopie im typischen F-Dur findet Anselm Dalferths Inszenierung ein gleichfalls rückwärtsgewandtes Bild: Der Darsteller Gottes bringt liebevoll seinen ausgeschalteten Gegenspieler in die Position des Gekreuzigten und macht Lucifer damit zum Bestandteil eines barocken katholischen Altarbilds.

Ob das Schlussbild diese visuelle Konkretisierung verträgt, darüber lässt sich streiten. Schließlich richtet sich die Aufforderung der Stimme Gottes „Hephata“ („Öffne dich“) in der neutestamentlichen Vorlage (Markus 7) an die Ohren eines Taubstummen und nicht an die Augen eines Blinden. Und der eigenwillige Lutheraner Langgaard dürfte bei aller persönlichen Faszination für den Katholizismus wohl kaum die Rückkehr dorthin im Sinn gehabt haben. Doch immerhin hat das beschauliche Idyll vor blauem Himmel etwas offensichtlich Trügerisches. Mit Lucifers Gestalt ist potentieller Widerspruch dem Bild einkomponiert. Oder, vielleicht an Herrn Söder in Bayern gerichtet: Das Kreuz ist ein anstößiges, kein bequemes Symbol.

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